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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 367<br />

98. Karfreitag<br />

Dieses Jahr tat der Winter sich schwer mit dem Abschied vom Teufelsloch<br />

und von der es umgebenden Taiga mit ihren zugef<strong>ro</strong>renen Sümpfen. Wir hatten<br />

Mitte April, befanden uns in der Karwoche, aber der winterliche Dekor mit dickem<br />

Schnee passte eher zu einem richtigen Weihnachtsfest als zu wahren Ostern.<br />

Einen Pfarrer hatten wir nicht dabei, der die gebührenden Messen hätte halten<br />

können, dafür aber einen stattlichen Kirchenchor mit Baritons wie R\doi, mit<br />

Bässen wie Vasile Cotea, dessen tiefe Stimme die Hütte in ihren Grundfesten<br />

erschütterte. Dann hatten wir auch einen jungen Theologen, Ion Popescu, der<br />

den gesamten Ablauf der Heiligen Liturgie kannte und – außer dem Moment der<br />

Eucharistie, welches der priesterlichen Messe vorbehalten ist – für uns einen in<br />

seiner ganzen Heiligkeit glänzenden Gottesdienst abhielt. Es war<br />

Karfreitagabend. Wir überlegten, das Totenamt am Eingang der Hütte, wo das<br />

Essen ausgeteilt wurde, zu halten. Entlang der Balkenwand aufgestellt,<br />

entfalteten die Choristen unter der Leitung des jungen Theologen die breiten<br />

Akkorde des zerreißenden Begräbnisliedes „Heiliger Gott, Hochheiliger, Heiliger<br />

Unsterblicher, erbarme dich unser!“ Dies wiederholte sich ernst und<br />

beschwörend, bis der Chor, der anschwoll wie ein Wasser, das Dunkel der<br />

Baracke mit dem Widerhall einer Katakombe füllte. Vor ihnen knieten wir, die<br />

anderen, ein jeder über die Ränder seiner selbst gebeugt, und verfolgten im<br />

Geiste mit jedem Akkord des Leichengesangs die Niederlegung des heiligen<br />

Leibes ins Grab.<br />

Da ging plötzlich die Tür auf, und mit der kalten Luft stürzten wilde<br />

Schreie, Flüche und Hundegebell über den geistlichen Gesang und über uns ein.<br />

Der Chor setzte seinen Gesang in einem kräftigen Crescendo fort. Keiner von<br />

uns – als hätten wir dies abgemacht – wandte seinen Blick zur Tür, um zu sehen,<br />

was los war.<br />

Dies war auch nicht nötig. Wir wussten alle, worum es ging. Es war die<br />

primitive Art, in welcher der Offizier vom Dienst, der Major, diese den Sümpfen<br />

der wilden Taiga entstiegene sowjetische Variante Calibans, uns die Feier des<br />

Heiligen Osterfestes verbieten wollte.<br />

„Hört sofort auf!“, brüllte er auf Russisch, begleitet vom Gebell der Hunde<br />

und vom Magazingeklapper der MPs an den Hälsen von drei, vier schrägäugigen<br />

Tschassowojs.<br />

„Hört auf, hört aaauuuf!“, wiederholte er seinen Befehl und schimpfte aufs<br />

deftigste… über die heiligen Dinge, natürlich, „hört auf, oder ich fülle den Karzer<br />

mit euch. Hört ihr denn nicht? Seid ihr verrückt?... Wollt ihr denn, dass ich auf<br />

euch schieße? Hört ihr niiicht? Antwortet doch!“<br />

Aber der Chor fuhr fort zu singen, und wir alle fuhren fort, seine<br />

Gegenwart mit all seinen Hunden und Tschassowojs völlig zu ignorieren. Für uns<br />

existierten sie alle ganz einfach nicht, und nichts, keine Gewalt gegen uns konnte<br />

uns überzeugen oder zwingen, die Idee ihrer Existenz zu akzeptieren. Nicht<br />

einmal dann, als zwei Tschassowojs auf den Befehl des Caliban sich auf zwei

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