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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 369<br />

Am meisten hungerten nach Kultur die jungen aktiven Unterleutnants, die<br />

von der Schulbank weg an die F<strong>ro</strong>nt geschickt worden waren und die nicht mehr<br />

die nötige Zeit gehabt hatten, zu lesen und sich eine gründliche Bildung<br />

anzueignen. Ich erinnere mich äußerst gerne an Jungs wie Liiceanu, Titu Preotu,<br />

Soso C\tuneanu, vor allem aber an Gabi Constantinescu, ein intelligenter junger<br />

Mann, der mit seiner grüblerischen Neugier in mein armes Gedächtnis eindrang,<br />

um auch den letzten Rest meiner philosophischen oder literarischen Kenntnisse<br />

hervorzuholen, welche im Hunger- und physiologischen Elendsregime dieser<br />

Jahre noch nicht von meiner Hirnrinde gelöscht worden waren.<br />

Da er aber gut Deutsch beherrschte, hatte er auch mit den Deutschen und<br />

Österreichern enge Beziehungen. Von ihnen lieh er sich auch Bücher aus, unter<br />

der Hand, natürlich, schließlich befanden wir uns in einem Straflager. Welch ein<br />

Schock war es für mich, als er eines Tages mit einem Hölderlin ankam, einer<br />

meiner Lieblingsdichter, den ich daheim in der Übersetzung Philippides 163<br />

gelesen hatte, und nun, nach fünf Jahren an der Seite der Deutschen hatte ich<br />

endlich die Gelegenheit, ihn auch im Original zu lesen. Was soll ich aber noch<br />

dazu sagen, dass er eines Tages das dramatische Werk Kleists anschleppte<br />

(Der zerb<strong>ro</strong>chene Krug, Penthesilea usw.), eine in streichelfeines Leder<br />

gebundene Luxusausgabe! Er war es auch, der mich mit einem p<strong>ro</strong>testantischen<br />

Pfarrer bekannt machte, mit Major Otto Schnübe aus Erfurt, der sehr daran<br />

interessiert war, mehr über die Orthodoxie zu erfahren, als er aus Büchern<br />

gelernt hatte. Nicht ohne eine gewisse Wehmut erinnere ich mich an unsere<br />

langen Abendgespräche bei Spaziergängen kreuz und quer durch das Lager<br />

während der Osterfastenzeit, als er mir sei es den Brief an die Römer in Karl<br />

Barths Anschauung darstellte, sei es das Johannesevangelium, welches er nach<br />

Kapiteln, Versen und Zahlen auswendig konnte, eine Seltenheit, der ich erst viele<br />

Jahre später in Periprava wieder begegnen sollte, bei Pfarrer C\r\u[u, der in<br />

Aiud 164 das gleiche Evangelium auswendig gelernt hatte, dies aber nicht mit dem<br />

Buch vor sich, sondern mit dem Ohr an der Wand, woher über Morsezeichen<br />

aus irgendeiner Zelle die göttliche Botschaft übermittel wurde. Otto war ein hoch<br />

gewachsener Mann mit blauen, leicht hervorstehenden und sehr traurigen<br />

Augen. Er hatte erfahren, dass bei den schrecklichen Bombardierungen Erfurts<br />

im Jahre 1945 seine Frau gestorben war, die er mehr als alles andere auf dieser<br />

Welt geliebt hatte.<br />

Wie schmerzlich der Verlust für ihn auch gewesen sein mag, es war ihm<br />

gelungen, sich damit von dem Moment an zu versöhnen, als er diesen als Gottes<br />

Willen akzeptierte. Und die Findung des göttlichen Sinns im g<strong>ro</strong>ßen, höchsten<br />

Schmerz seines Lebens brachte seinem Herzen Frieden. Jenen Frieden, der wie<br />

eine Gnade auch auf seine Nächsten strahlte.<br />

*<br />

Dieses Frühjahr, eigentlich die peinliche Verlängerung eines<br />

eigensinnigen Winters, wurde letztlich vom Kalender gezwungen, einem wahren<br />

Sommer Platz zu machen, und nach einer derart langen Zurückhaltung ergossen<br />

163 Alexandru A. Philippide (1900-1979) war Dichter, Essayist und Übersetzer.<br />

164 Das siebenbürgische Städtchen Aiud (dt. Strassburg am Mieresch, Kreis Alba) erlangte nach 1945 eine<br />

traurige Berühmtheit dank seines Gefängnisses, das in den 1950er Jahren von politischen Häftlingen<br />

überquoll.

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