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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 461<br />

129. Der Jüngling und das Wetter<br />

Er war weg, ließ aber ein Wort zurück, das in den Wassern meiner Seele<br />

Wellen zu schlagen begann. Und die Wellen reichten schließlich bis an die<br />

Märchengestade meiner Kindheit, woher sie in den goldenen Bannkreis dieses<br />

Wortes zurückkehrten.<br />

Dieses Wort, das auf mich eine magische Wirkung hatte, war Ferganà,<br />

das in der turkmenischen Sprache – gemäß (den von mir nicht überprüften)<br />

Erklärungen Durrieuxs – mit „la belle au bois dormant“ oder „Dornröschen“ zu<br />

übersetzen sei.<br />

Ich nahm mir vor, dieses Märchen neu zu schreiben in einem Poem, in<br />

welchem vermittels (selbstverständlich) versteckter Begriffe die schreckliche<br />

P<strong>ro</strong>blematik dieser monströsen Jahrhundertmitte Gestalt annehmen sollte, in der<br />

wir zu leben hatten, sowie die apokalyptische Öffnung des Kampfes auf Leben<br />

und Tod zwischen den beiden gigantischen Widersachern des Jahrhunderts,<br />

zwischen denen wir, das Fußvolk, uns hindurchschlängeln mussten.<br />

„Dornröschen“ war in meiner Interpretierung die Seele dieser Welt, die von<br />

der Zeit mit Hilfe ihrer Zaubereien eingelullt worden war und welche diese auf<br />

ewig im Schlafe zu halten wünschte.<br />

Die Erlösung würde – gemäß meiner Variante – von jenem Tapferen<br />

kommen, der weder Zweifel, noch Furcht kennt und der es im mutigen Kampf mit<br />

den feindlichen Mächten schaffen wird, ans Bett der Prinzessin zu gelangen und<br />

den rettenden Kuss auf ihre Lippen zu drücken, der sie zusammen mit der<br />

gesamten sie umgebenden Welt aus ihrem Schlafe erweckt. Um dies zu<br />

verhindern, errichtet die Zeit auf dem Weg zum schlafenden Wald ein<br />

unüberwindliches Hindernis: zwei Berge, immense Riesenhäupter, die voller Wut<br />

aufeinander stoßen (die beiden antagonistischen Mächte). Mein Held war ein<br />

Jüngling. (Daher auch der Titel des Poems: Der Jüngling und die Zeit.) Der im<br />

Traum seinem Schicksal begegnet, das ihn im Schlafe aufruft, die Prinzessin aus<br />

der Macht des Zaubers zu befreien und der überzeugt ist davon, dass er dazu<br />

bestimmt ist, diese Aufgabe zu erfüllen. (Dadurch definiert er sich als Symbol<br />

unserer zwischenkriegszeitlichen Generation, die selber auch ihre Berufung<br />

entdeckt hatte, eine in den Schlaf der Korruption und der Libertinage versunkene<br />

Welt wieder an die Oberfläche zu heben.) Auf seinen Stern vertrauend brach er<br />

auf zum unbekannten Ziel, einzig von seinem Traum geleitet. Die Zeit aber stellt<br />

sich ihm in den Weg, und um ihn von seiner Berufung abzubringen, versucht sie<br />

ihn mit all ihren weltlichen Genüssen zu verführen. Der Jüngling aber weist alles<br />

zurück und spottet ihrer, was sie noch mehr gegen ihn aufbringt.<br />

T<strong>ro</strong>tz seiner jugendlichen Begeisterung scheint er allerdings nicht die<br />

Bedingungen eines Märchenhelden zu erfüllen, denn mit den ersten Marienfäden<br />

des Herbstes wird sein Geist von Zweifeln beschlichen. („Jage ich denn nicht<br />

etwa einem Gespenst nach?“) Und als er an den Ort gelangt, wo die Berge sich<br />

die Köpfe einschlagen, erfasst ihn Furcht.

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