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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 57<br />

Plötzlich spürte ich, wie jemand kräftig nach meinem Arm griff. Es war<br />

Br=ndu[, mein Beobachtungskaporal, ein sehr verlässlicher Mann. Ich hörte ihn<br />

mir zuflüstern: „Kommen Sie schnell mit mir, Herr Leutnant! Es ist wichtig.” Seine<br />

Geste war so entschieden und der Ton so imperativ, dass sie keinen<br />

Widerspruch zuließen. Er ging energischen Schrittes am linken Rande der<br />

Kolonne entlang, überhastet an den „Tschassowojs“ vorbeidefilierend. Ich folgte<br />

ihm voller Angst davor, auf den Usbeken zu stoßen, der versucht hatte, mich aus<br />

der Kolonne raus zu ziehen. Ich folgte ihm über eine g<strong>ro</strong>ße Distanz so schnell ich<br />

konnte. Plötzlich blieb er stehen und zeigte mir etwas links von uns.<br />

„Sehen sie jenes Akazienwäldchen?“<br />

„Br=ndu[, das können keine Akazien sein“, erwiderte ich, „das können nur<br />

Birken oder Fichten sein.“<br />

„Es sind Akazien, Herr Leutnant. Was reden Sie mir hier von Fichten?<br />

Hab’ ich denn nicht in ihrem Schatten meine Kindheit verbracht?“ Ich spürte<br />

einen eiskalten Schauer über mein Rückgrat rieseln. „Passen Sie auf, was ich<br />

Ihnen sage! An den Akazien entlang geht ein Steg, sehen Sie ihn?, der führt<br />

hinauf auf jene Anhöhe.“ (Stimmte, hinter dem Wäldchen sah man eine Anhöhe.)<br />

Jenseits davon liegt mein Dorf. Der Steg führt direkt hinter unseren Garten. Im<br />

Haus wartet meine Mama auf uns. Sie hat den Kessel über dem Feuer und<br />

richtet eine g<strong>ro</strong>ße Polenta an, mit Ei, Käse und Schweinegrieben. Und Vater hat<br />

einen Eimer Rotwein geholt, Bärenkraft, und wir werden essen und trinken, bis<br />

unser Bauch überschnappt“.<br />

„Br=ndu[, Mann, hast du nicht mehr alle? Hier sind wir in Russland, nicht<br />

in deinem Dorf.“<br />

„Lassen Sie mich doch, Herr Leutnant, mit ihrem Russland! Was, war ich<br />

denn nicht mit den Schafen hier auf der Weide? Kommen Sie mit mir, überlegen<br />

Sie nicht mehr so viel!“ Und er machte noch größere Schritte, dass ich kaum<br />

noch mithalten konnte. „Wenn Sie nicht mitwollen, gehe ich alleine. Bloß melden<br />

Sie mich nicht abwesend beim Appell!“<br />

„Halt an, Br=ndu[, wohin gehst du? Das ist nicht dein Dorf hier.“ Ich fasste<br />

ihn verzweifelt mit beiden Händen am Arm. Er aber, kräftig wie er war, riss sich<br />

so voller Gewalt los, dass ich strauchelte und in den Schnee fiel. Dann rannte er<br />

los, zwischen den über eine solch unerwartete Tat verwunderten<br />

Bewachungssoldaten hindurch. Bis sie reagieren und auf ihn schießen konnten –<br />

manche der „Tschassowojs“, selber auch müde, gingen dösend dahin –, war<br />

mein Br=ndu[ bereits zwischen die „Akazien seiner Kindheit“ gelangt, die nun<br />

sofort mit einem Kugelhagel bedacht wurden, der aber nicht auch den Flüchtling<br />

traf, der im oberen Teil des Wäldchens auf den Hügelkamm zustürmte. Ich<br />

schlug ein Kreuz. „Gott, wenn er bloß hinüber kommt!“ Leider kam es nicht so.<br />

Das konzentrierte Feuer einiger MPs erwischte ihn mit einer der Garben, gerade<br />

als der auf der Anhöhe war.<br />

Sein Leib verschwand im Schnee, und seine Seele löste sich daraus und<br />

stieg sanft gen Himmel gleich dem Dampf einer Polenta aus Mamas Kessel.<br />

Der F<strong>ro</strong>st wurde schärfer und biss sich in uns fest. Unser Gang wurde<br />

zunehmend schwerer. Vom Ende der Kolonne her waren wie aus weiter Ferne<br />

immer öfters Schüsse zu hören. Sie galten jenen, die aus der Kolonne fielen und<br />

vor dem Schlussmann, dem Riesen im wattierten Mantel mit seinem blutgierigen

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