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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 502<br />

wonach all dies Arbeitsvolk ohne Murren rechts abbog und sich unter dem wilden<br />

Gebell der Polizeihunde, als gelte dies Häftlingen, auf den Weg entlang der<br />

Eisenbahnlinien machte – ohne Eile, untertänig-demütig. Ich blickte ihnen nach,<br />

wie sie apathisch und resigniert vor unseren Waggons vorbeidefilierten, welche<br />

eine genauso vom Schicksal geschlagene Welt wie auch ihre einschlossen, und<br />

diese Leidensgemeinschaft zwischen den beiden Welten, die eine einzige Reihe<br />

von Polizisten und Hunden trennte, weckte in mir ein grenzenloses Mitleid für<br />

diese Menschen und ihr unterdrücktes und gedemütigtes Volk, das dazu<br />

verurteilt worden war, auf seinen Leib das experimentelle Gewebe des<br />

bösartigsten Tumors, des <strong>ro</strong>ten Neoplasmas, aufgepflanzt zu bekommen.<br />

Und bis auch die letzten Silhouetten zwischen den Linien des<br />

Rangierbahnhofes verschwanden, verfolgte ich mit den Blicken all diese<br />

Gesichter ohne Antlitz, all diese Vielfalt von Figuren, die in einer einzigen<br />

zusammenflossen: jener des „Elends“. Und ein Gedanke durchfuhr mich wie ein<br />

Schauer: „Herrgott, wie bloß mag jetzt mein eigenes Volk zu Hause aussehen?“<br />

Ein langes Pfeifen der Lok, und all die Tschassowojs und Hunde, voran<br />

die blaue Schirmmütze, eilten zum ersten Waggon. Dann begann sich der<br />

Bahnhof unmerklich langsam zu entfernen, wurde vom Licht des<br />

Sonnentunergangs geschluckt, in den wir hinein fuhren. Als ich einen letzten<br />

Blick in Richtung dieses besonderen Existenzgebietes warf (so wie einst in die<br />

Unterwelt der Kindheitsmärchen), in der meine Jugend begraben worden war,<br />

erklangen in meinem Geiste die Verse Lermontows, als er Russland verließ und<br />

in den Kaukasus in die Verbannung ging:<br />

„Prastschaj nem`taja Rasija,<br />

Strana rabow, strana gaschpod,<br />

I w`, mundirij galubija,<br />

I t` posluschnik im na<strong>ro</strong>d.”<br />

(Ade, mein ungewaschenes Russland,<br />

Reich der Herren und der Knechte,<br />

Ihr blauen Schirmmützen, ade<br />

Und ade, ihnen untertänigstes Volk!)<br />

Bald darauf füllte Dunkelheit den Waggon, und damit einhergehend kehrte<br />

auch Schweigsamkeit ein. Ab und zu war noch ein Seufzer zu hören, ein Sich-<br />

Wenden auf der Schlafstätte. Mehr nicht. Aber keiner schlief in jener Nacht. Wir<br />

hatten jene Wegbiegung erreicht, wo die Sphinx mit ihren ausschließenden<br />

Fragen wachte: Was werden wir daheim vorfinden nach diesen neun Jahren der<br />

Abwesenheit, Jahre schwerer Prüfungen für unser aller Familien? Auf wie viele<br />

von uns wartete denn noch die Ehefrau? Wie viele von ihnen würden dem<br />

Ansturm der Freier standgehalten haben, indem sie tagsüber an Penelopes<br />

Leinwand webten, die sie nachts zerrissen? Und die Eltern, wie viele von uns<br />

würden sie noch am Leben finden? Und die Kinder, wie g<strong>ro</strong>ß würden sie sein<br />

und, vor allem, wie sollten sie g<strong>ro</strong>ß geworden sein? In Ehrfurcht vor Gott und<br />

Liebe für Volk und Land oder in Verachtung dafür und den „offiziellen“ Werten<br />

und deren Trägern huldigend? Würden sie uns denn noch kennen oder wieder<br />

erkennen oder uns gleich Unglück bringenden Aussätzigen abweisen, die nun

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