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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 60<br />

denn oberhalb von uns, im Schein der Feuer, welche die Wachsoldaten<br />

angefacht hatten, konnte man Stallungen ausmachen, in die jene, die vor uns<br />

angekommen waren, schlafen gegangen waren. Resigniert suchten wir uns eine<br />

Schlafstelle im Schnee einzurichten, als wir im allgemeinen Weiß ein paar<br />

schwarze Flecken entdeckten. Drauf tretend, stellten wir fest, dass es sich um<br />

ein paar warme Schafmisthäufchen handelte.<br />

„Was für ein Glück, in dieser gef<strong>ro</strong>renen Steppe auf diese natürlichen<br />

Heizkörper zu stoßen!“ Wir setzten uns glücklich, ein jeder, so gut er konnte,<br />

darauf, und bevor wir schlafen gingen, durchstöberten wir unsere B<strong>ro</strong>tsäcke und<br />

holten die letzten B<strong>ro</strong>cken t<strong>ro</strong>ckenen B<strong>ro</strong>tes hervor.<br />

Erst gaben wir dem Verwundeten zu essen. Pioar\, unser Sanitäter, kaute<br />

je ein Stückchen B<strong>ro</strong>t vor, dann reichte er es diesem Häppchen um Häppchen;<br />

jeder Bissen wurde beim Hinunterschlucken von Schmerzgestöhn begleitet. Zum<br />

Glück fanden wir in einer Feldflasche noch etwas Wasser, das ihm das<br />

Schlucken erleichterte. Unsererseits aßen wir Schnee, der aber ist<br />

bekanntermaßen kein Durstlöscher.<br />

Dann legten wir uns schlafen auf den warmen Schafmist, als wäre es die<br />

weichste Matratze, und da wir eh keine Decken hatten, in die wir uns hätten<br />

einwickeln können, hüllte uns ein stiller Schneefall mit g<strong>ro</strong>ßen Flocken nach und<br />

nach, gleich einer Daunendecke, ein.<br />

Dies waren die erste Nacht und der erste Schlaf in Gefangenschaft. Aber<br />

auch die erste Flucht aus der zugeschneiten Steppe und weg von der<br />

Bewachung des Feindes, auf den einsamen Stegen des Traumes.<br />

Ich war zu Hause, in unserem gut gewärmten und nach Leckerbissen<br />

wohlriechenden Esszimmer. Der Tisch war voller Gerichte und ausgewählter<br />

Getränke. Drum herum standen, in Schwarz gekleidet und schweigsam, die<br />

Meinen versammelt, auf etwas wartend. Durchs Fenster konnte man draußen<br />

das Schneetreiben sehen. B<strong>ro</strong>nzeschellengebimmel und das Muhen eines<br />

Buhais 29 waren zu hören. Es war Neujahrsabend. Aber meine in Schweigen und<br />

Trauerflor gehüllte Familie hatte sich nicht versammelt, um Silvester zu feiern.<br />

Das kleine Tablett mit Coliva 30 und die in der Mitte des Tisches angezündete<br />

Kerze, an deren Ständer mein Foto lehnte, wies darauf hin, dass man auf einen<br />

Priester wartete, wohl auf unseren Gemeindepfarrer, Vater Lupa[cu, um den<br />

angerichteten Tisch zu segnen und vom Bösen zu befreien.<br />

Man gedachte meiner… „nach vierzig Tagen“. Oh, mit welcher Lust ich<br />

mich denn an meinem Trauerschmaus gütig getan hätte. Aber das ging nicht, ich<br />

war ja nicht da; ich war nirgendwo, existierte nicht mehr. Der Lärm der Schellen,<br />

des Buhais und der Peitschen nahm zu. Von draußen rief eine tiefe Bassstimme:<br />

29 Rumänisches Volksinstrument: Eine mit Leder zugebundene kleine Bütte. Durch das Leder führt ein<br />

Strang Pferdehaare, das, wird es mit angefeuchteten Fingern hin und her gezogen, das Muhen eines Stieres<br />

nachahmt. Gruppen von Jugendlichen pilgern durch die Gassen, singend, lärmend, mit Peitschen knallend<br />

und althergebrachte (vorchristlich verankerte) Tänze (Bärentanz, Ziegentanz, Pferdchentanz usw.)<br />

aufführend.<br />

30 Coliva ist ein traditionelles Gericht aus gekochtem Weizen, der mit Honig oder Zucker gesüßt wird. Es<br />

wird etwa zu Ostern und bei Leichenbegängnissen angerichtet und soll den Leib des Hingeschiedenen und<br />

dessen Auferstehung im Himmel symbolisieren.

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