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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 351<br />

91. MITIC\ B\LANS FRANKOPHONIE<br />

Vom Tor her machte uns von Schubert ein Zeichen mit der Hand, erst um<br />

uns zu beglückwünschen, dann um uns zu sich zu rufen, um uns etwas zu<br />

zeigen. Wir näherten uns misstrauisch. Und was bekamen wir zu sehen? Auf<br />

einer im makellosen Weiß des Schnees ausgebreiteten Matratze lag schweigend<br />

Mitic\ B\lan, mit der Mütze bis auf die Augenbrauen gezogen und der Decke bis<br />

zum Hals, mit geschlossenen Augen und unbeweglich wie ein Toter, den man<br />

aus dem Gefrierschrank des Leichenschauhauses rausgeholt hat, mit einem<br />

Stück Pappe auf der Brust, auf der in russischer, deutscher und rumänischer<br />

Sprache „Hunger- und Schweigestreik für die Rückerstattung des<br />

Französichbuches!” zu lesen war. Mitic\ B\lan vollzog vor dem Tor und unter<br />

den Blicken Dutzender von Gefangenen durch seine Bewegungslosigkeit und<br />

sein Schweigen eine erschütternde Demonstration. Da trat einer, nachdem er<br />

gerade erst einen Hungerstreik aufgegeben hatte, erneut in den Hungerstreik,<br />

dazu unter selbstmörderischen Bedingungen, und all dies für ein Buch! Ja, das<br />

war eine superb-mutwillige Geste, wie ich in meiner gesamten Karriere als<br />

Gefangener und Häftling keiner anderen begegnet bin und auch nicht von etwas<br />

Vergleichbarem gehört habe.<br />

Ehre dir, Mitic\ B\lan, bescheidener Lehrer aus dem B\r\gan! Zum Glück<br />

steckte er weiter in meinem pelzgefütterten Mantel, den er mir noch nicht<br />

zurückgegeben hatte. Ruhig und idyllisch fielen g<strong>ro</strong>ße Schneeflocken auf ihn, wie<br />

auf einer Weihnachtskarte. Schließlich tauchte der Offizier vom Dienst auf,<br />

Schicht zwei, ein Hybrid von einem <strong>ro</strong>ten und einem gezeichneten Menschen (er<br />

hinkte ein bisschen), der, als er ihn sah, erst einmal g<strong>ro</strong>ße Augen machte, ihn<br />

dann anschnauzte, doch aufzustehen, und da er keine Antwort erhielt, begann er<br />

mit den Stiefelspitzen Mitic\s Glieder zu traktieren. Keine Regung. Keinerlei<br />

Stöhnen seitens M. Hingegen gab es ein dumpfes Gemurmel der Missbilligung<br />

bei den Ungarn und den Deutschen, und die wenigen von uns, die wir zugegen<br />

waren, skandierten: „Schlag nicht! Schlag nicht!“ Dies entmutigte den<br />

gezeichneten <strong>ro</strong>ten Mann.<br />

Da er den Weg von diesem die Brigaden störenden Hindernis nicht anders<br />

befreien konnte, bückte er sich, ergriff die Matratze am Fußende und begann<br />

verzweifelt, zur Belustigung aller, sie wie einen Schlitten über den Schnee<br />

wegzuziehen. Da das Gewicht über seine Kräfte ging, forderte er die<br />

Umstehenden auf, ihm zu helfen, und weil keiner sich diesbezüglich beeilte, ließ<br />

er das Paket liegen und ging aus dem Tor, um Hilfe zu holen. Die beiden Hünen<br />

von Tschassowojs, mit denen er zurückkehrte, ergriffen die Matratze mit dem auf<br />

ihr ausgestreckten Mitic\ und eilten im Laufschritt Richtung Karzer.<br />

Unterdessen zogen alle Insassen der unheimlichen G<strong>ro</strong>tte namens<br />

Isolator in eine benachbarte Baracke um, in der die Bedingungen zwar auch<br />

prekär, aber doch erträglicher waren.<br />

Die Nachricht vom streikenden B\lan wühlte unsere gesamte<br />

Streikendengruppe auf, denn sie stellte uns vor ein peinliches Dilemma: es ihm

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