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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 386<br />

werden ließ. Man transportierte sie bis Kasan und befahl ihnen, bei -40º mit der<br />

Brechstange die riesigen Baumstämme aus der gef<strong>ro</strong>renen Wolga<br />

herauszuholen, die auf der Kama aus dem Herzen des Urals als Flöße<br />

heruntergebracht worden waren. Eine Gunst, die keiner überlebte. Seine beiden<br />

Eltern starben in einem sibirischen Lager, und ihm bot man ein Jahr später, als<br />

er 16 wurde, die Möglichkeit, rekrutiert zu werden. Ausgebildet, unausgebildet<br />

wie er war, wurde er an die F<strong>ro</strong>nt geschickt, wo ihn, wie er meinte, Gott und die<br />

Heilige Jungfrau behüteten, so dass er den Krieg gar unversehrt überlebte. Da<br />

wurde er aber – er sollte nie kapieren, wieso – aus der Pichota (Infanterie) zu<br />

den Spezialtruppen des NKWD versetzt. Wo es ihm nicht gefiel, t<strong>ro</strong>tz aller<br />

Vorteile, die er der gewöhnlichen Bevölkerung gegenüber genoss, aber was<br />

konnte er tun…?<br />

„Aber was gefällt Ihnen denn nicht?“, fragte ihn mit verstellter Naivität<br />

einer von uns.<br />

„Muss ich noch was sagen? Als wüsstet ihr’s nicht! Dankt Gott, dass ihr<br />

von hier, aus dem Teufelsloch, entkommen seid und jetzt heimkehrt. Und haltet<br />

den Mund, wenn ihr zu Hause in Frieden leben wollt, denn jetzt ist’s bei euch<br />

genau so wie bei uns“, beendete der Deutsche seine Beichte, und damit war<br />

auch die letzte Wodkaflasche leer.<br />

Mit dieser (von Cotea gedolmetschten) Geschichte nahte das Ende des<br />

ersten Teiles unserer euphorischen Reise Richtung Heimat. Gegen Abend des<br />

auf diese Erzählnacht folgenden Tages erreichte der Zug den Bahnhof der<br />

kleinen Stadt Morschansk, wo wir ausstiegen und laut P<strong>ro</strong>gramm baden, unsere<br />

(beträchtlich und vorsätzlich reduzierte) Kleidung ergänzen und mit dem ersten<br />

Zug unsere Reise heimwärts fortsetzen sollten. Allein, hinter dem Bahnhof<br />

erwarteten uns zwei offene LKWs, die uns weitertransportieren sollten – und eine<br />

Bewachungsmannschaft, um uns zu eskortieren.<br />

Nach der Freiheitsluft, die wir in diesen neun, zehn unvergesslichen<br />

Tagen gierig in unsere Lungen gepumpt hatten, kam die Erscheinung der<br />

Wachsoldaten mit ihren automatischen Balalaikas um den Hals und den<br />

Schäferhunden an der Leine einer eiskalten Dusche gleich. Ich warf dem<br />

Deutschen einen beunruhigten Blick zu und bemerkte auch auf seinem Antlitz<br />

einen gewisse Bestürzung, doch fasste er sich sofort und versicherte uns, dass<br />

alles in Ordnung sei (fsjo poreatka!) und unser P<strong>ro</strong>gramm unverändert bleibe.<br />

Irgendwie beruhigt stiegen wir auf die LKWs. Der Weg zum Lager, den wir in der<br />

Kühle des Abends zurücklegten, führte uns durch das Industriegebiet am Rande<br />

einer ruhigen Kleinstadt, dann verdunkelte nicht zuletzt auch das geheimnisvolle<br />

Grün eines Waldes mit riesigen Föhren die Landschaft.<br />

Plötzlich fanden wir uns auf einer Lichtung wieder, an deren Rand,<br />

jenseits des unverwechselbaren Stacheldrahtzauns und der Wachtürme, hinter<br />

den jahrhundertealten Pinien, in denen das letzte Licht des Abends spielte, die<br />

Dächer von Gefangenenbaracken auftauchten. Das sehr weiträumige Lager war<br />

letztlich nichts als ein von Stacheldraht umzäuntes Stück Wald, das vom Rest<br />

der Taiga durch breite Abholzungen auf jeder Seite getrennt wurde.<br />

Als wir vor dem Tor ankamen, stiegen der Deutsche und der junge,<br />

verschwiegene NKWD-Mann, der Träger der Aktenmappe, unserer Schatten,<br />

aus dem LKW und betraten das Gardegebäude, um uns zu übergeben. Nach ein

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