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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 372<br />

Reihen (aus dem Flügel der Moderaten) freien Willens und ohne Zwang ein<br />

ehrenwerter alter Oberst – der Dienstälteste unter den Anwesenden – der,<br />

aufgrund dieser Tatsache, sich verpflichtet fühlte, das Wort zu ergreifen.<br />

Gewöhnt mit den p<strong>ro</strong>tokollarischen Reden auf Banketts, mit deren bombastischer<br />

Rhetorik, in denen mit vielen Gefälligkeitsfloskeln nichts gesagt wird, verwickelte<br />

sich der Alte in hochtrabenden Phrasen, aus denen er dann nicht mehr anders<br />

herausfand als mit Dankesworten für die schönen Wünsche des Vorredners,<br />

wobei er diesen der gleichen schönen Erinnerungen, die man an ihn bewahren<br />

werde, versicherte… und es folgten viele andere leere Gefälligkeits- und<br />

Höflichkeitsphrasen, die wohl unter normalen Umständen passend sind, nicht<br />

aber beim Verlassen eines schrecklichen Lagers, wo wir bis an die äußerste<br />

Existenzgrenze gedrückt worden waren.<br />

Ziganow war natürlich angesichts dieses Schauspiels erst einmal<br />

sprachlos. Das Opfer hatte freien Willens und von niemandem gezwungen dem<br />

Folterer Lob und Dank dargebracht für alle Torturen, deren es bis dahin teilhaftig<br />

geworden war. So etwas hätte sich nicht einmal Stalins Genius ausdenken<br />

können. Deswegen lud Ziganow, nachdem die Kolonne Richtung Bahnhof<br />

aufbrach und nur die höheren Offiziere und ein paar Kranke zurückblieben, um<br />

mit dem LKW transportiert zu werden, den imp<strong>ro</strong>visierenden Oberst zeremoniös<br />

in sein Bü<strong>ro</strong>. Nachdem er ihm dankte und ihn für seinen inspirierten Diskurs<br />

lobte, fragte er ihn dann mittels eines Periwotschiks geradeheraus:<br />

„War denn der Herr Oberst auch wirklich ehrlich in seinen<br />

Annerkennungsworten?“ „Selbstverständlich“, erwiderte dieser. (Hätte er denn<br />

verneinen können?) „Dann bitte ich den Herrn Oberst, alles, was er wörtlich<br />

behauptet hat, auch schriftlich zu erklären“, und mit diesen Worten legte er ein<br />

Blatt Papier vor ihn.<br />

Der arme Oberst merkte erst jetzt, in was für eine Falle er getappt war,<br />

hatte er sich doch einfangen lassen vom Klebstoff der p<strong>ro</strong>tokollarischen Rhetorik<br />

des schlauen Ziganow. Aber es war zu spät. Schwitzend schrieb er seine Rede<br />

nieder, wodurch er indirekt all das in den neun Monaten im Teufelsloch Erlittene<br />

annullierte und dem Folterer ein Zertifikat für gutes Benehmen ausstellte.<br />

Freilich wühlte es uns etwas auf, dass uns das Tor der Repatriierung vor<br />

der Nase zugeschlagen worden war, genau so wie auch die Tatsache, dass<br />

Ziganow sich um unser Schicksal besorgt gezeigt hatte. Und wir fragten uns, wo<br />

wir nun schon den Repatriierungszug verpasst hatten, ob wir wohl die nächste<br />

Garnitur erwischen würden. „Nun gut“, sagten wir uns, „dies war unsere Wahl,<br />

als wir uns offen gegen die Macht aufgelehnt haben. Was konnten wir also<br />

anderes erwarten? Tragen wir denn nicht selber die Schuld dafür?“ Und damit<br />

beruhigten wir uns auch wieder. Anders stand es um die antifaschistischen<br />

Aktivisten, ganz zu schweigen von unseren Schatten. Sie hatten anders gewählt,<br />

hatten sich für die Kollaboration, für die Denunziation entschieden. Und was<br />

hatten sie nun davon? Sie waren in den gleichen Topf mit den Reaktionären, den<br />

Hungerstreikenden, den erklärten Feinden der Union geworfen worden. War das<br />

nun der Lohn für ihre Dienste? Was war das denn für eine Gerechtigkeit? Von<br />

solchen Gedanken beherrscht, erfasste eine tödliche Traurigkeit ihr Gemüt. Sie<br />

aßen nicht mehr, sprachen nicht mehr miteinander, saßen starr vor ihrem

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