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Die Religion der Baul-Gemeinschaft

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Guru<br />

Das Gotteserlebnis ist die einzige Qualifikation, die einen zur Ausübung des Guruamtes<br />

berechtigt. <strong>Die</strong> Behauptung des Gurus, daß er Gott erlebt hat, muß für den Gottsuchenden<br />

glaubhaft sein. Der Guru und <strong>der</strong> zukünftige Schüler prüfen einan<strong>der</strong>, bevor sie sich füreinan<strong>der</strong><br />

entscheiden. Theoretisch dürfen beide Geschlechter als Guru fungieren, aber in <strong>der</strong><br />

Praxis sind es unter den <strong>Baul</strong>s nur die Männer, die ein Guruamt ausüben.<br />

Ein Mensch darf sich nur dann als <strong>Baul</strong> bezeichnen, wenn ihm vorher von einem Guru <strong>der</strong><br />

<strong>Baul</strong>gemeinschaft die beson<strong>der</strong>e Initiation (diksha) dieser Glaubensrichtung erteilt worden<br />

ist. <strong>Die</strong>s entspricht <strong>der</strong> Aussage <strong>der</strong> Manusmriti II, 144-145, die sagt, daß <strong>der</strong> Guru für<br />

seinen Schüler wie seine Eltern, ja sogar wichtiger als <strong>der</strong> leibliche Vater ist, da <strong>der</strong> leibliche<br />

Vater einem nur das Leben auf <strong>der</strong> Erde schenkt, aber <strong>der</strong> Guru einem die Veden lehrt und<br />

ihn dadurch das unendliche Leben schenkt. Der Guru zeigt den <strong>Baul</strong>s den Weg zu Gott.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s haben keine heiligen Schriften. Des Gurus Worte sind für sie die heiligen<br />

Schriften und seine Instruktionen die praktischen Anleitungen, denen sie bedingungslos<br />

folgen müssen. <strong>Die</strong> Yogaübungen werden den Schülern vom Guru persönlich beigebracht.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Baul</strong>s glauben, daß sie ohne die intensive Betreuung vom Guru Gott nicht erreichen<br />

können. Der Guru muß jeden Schritt seiner Schüler beobachten und sie rund um die Uhr<br />

betreuen. Jegliches Detail bezüglich des spirituellen Lebens <strong>der</strong> Schüler wird vom Guru<br />

bestimmt, <strong>der</strong> von Fall zu Fall unterschiedlich entscheiden darf, da die Schüler verschieden<br />

veranlagt sind. Deshalb sollen die Schüler zusammen mit dem Guru in <strong>der</strong>selben Wohngemeinschaft<br />

wohnen. In ihren Lie<strong>der</strong>n setzen die <strong>Baul</strong>s ihren Guru mit Gott gleich (s. Anhang<br />

<strong>Baul</strong>-Lie<strong>der</strong>).<br />

<strong>Baul</strong> Anirvana vergleicht die Guru-Schüler-Beziehung mit <strong>der</strong> Mutter-Kind-Beziehung. Sie<br />

entwickelt sich zu einer vollkommenen Harmonie zwischen den beiden, bis sie in ihren<br />

Empfindungen eins werden. <strong>Die</strong>se Empfindung kann den Schüler so sehr beeinflussen, daß<br />

er keine separate Identität mehr hat. Er spricht auch von einer mystischen Macht des Gurus,<br />

die er für das spirituelle Fortkommen, sowie die letztendliche Befreiung des Schülers benutzt.<br />

Er vergleicht die Übertragung dieser mystischen Kraft vom Guru zum Schüler mit <strong>der</strong><br />

Tötung des letzteren durch <strong>der</strong> ersten, da dieser Transfer den letzten Rest des Ego im<br />

Schüler vernichtet. Durch den Tod seines Egos wird <strong>der</strong> Schüler selbst zum Guru und wird<br />

<strong>der</strong> Geist des Gurus dienen. Ferner meint <strong>Baul</strong> Anirvana, daß <strong>der</strong> Guru seinem Schüler nicht<br />

die letzte Wahrheit enthüllt. <strong>Die</strong>se muß <strong>der</strong> Schüler selbst erkennen. Der Guru lehrt seinen<br />

Schüler ein Zehntel von dem, was er weiß, da er sonst einem leeren Topf gleicht. 128 <strong>Die</strong>se<br />

Aussage entspricht dem Glauben <strong>der</strong> Hindus in West Bengal, daß Ramakrishna erst in<br />

seinem Sterbebett seinem Schüler Swami Vivekananda den Kern des Initiationsmantras<br />

offenbart hat. Es wird erzählt, einige Tage vor seinem Tode rief Ramakrishna Swami Vivekananda<br />

(damals noch Narendranath Datta) und bat seine an<strong>der</strong>en Schüler, sie allein zu<br />

lassen. Er betrachtete seinen Schüler voll Zärtlichkeit und fiel in tiefer Meditation (samadhi).<br />

Auch Vivekananda verlor das Bewußtsein. Als er wie<strong>der</strong> zu sich kam, sagte Ramakrishna zu<br />

ihm unter Tränen, daß er ihm alles gegeben und nun selbst nichts mehr hatte. 129<br />

128 Vgl. Shri Anirvan: Letters from a <strong>Baul</strong>, Calcutta, 1983, 53-63<br />

129 Vgl. Sollange Lemaitre: Ramakrischna, Reinbek bei Hamburg, 1981, 140-147<br />

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