linguistische
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hatten. Ich griff in meiner Not zu Lawrence Perrine, Story and Structure<br />
(vgl. Perrine 1963), und fand das Buch gleich nach ein paar Seiten Lektüre<br />
über die Maßen hilfreich. Nun lernte ich ganz systematisch, was zu tun<br />
sei, um unter die Oberfläche des Textes zu blicken und eine Lesetechnik<br />
zu erwerben, die erlaubte, narrative Strukturen und Bedeutungsmuster<br />
zu erkennen, die dem flüchtigen Leser verborgen bleiben. Gemeinsam<br />
mit meinen Studierenden lernte ich, lesend und diskutierend, literarische<br />
Werke neu zu sehen und gerade wegen der Einsicht in ihre Baumuster<br />
und in ihr ästhetisches Konzept Genuss und Freude bei ihrer Lektüre zu<br />
empfinden. Jetzt endlich begann ich jener Germanist zu werden, der ich<br />
durch mein Studium zu werden vergeblich gehofft hatte.<br />
Mehr als zehn Jahre später: Ich habe mein Fach gewechselt. Nicht mehr<br />
Germanist und Anglist bin ich jetzt, sondern Erziehungswissenschafter,<br />
„ordentlicher“ Professor an der Universität Klagenfurt. Ich „bekleide“<br />
einen Lehrstuhl: Herr Professor also. Die Gründe für diesen Wechsel<br />
von der Philologie zur Sozialwissenschaft 3 hatten mit meiner Freude am<br />
Lesen nichts zu tun. Aber der Wechsel in die Gefilde der Social Sciences<br />
war verbunden mit ganz neuen Leseerfahrungen; nicht nur, weil ich<br />
wieder einmal einen Berg von Fachliteratur nachzulesen hatte, sondern<br />
auch, weil – so schien es mir zumindest – Sozialwissenschafter einen ganz<br />
anderen Umgang mit Texten pflegen als Philologen, keinen hermeneutischen,<br />
sondern, so mein erster Eindruck, einen naiv-positivistischen: Ein<br />
Text sei vorerst nichts weiter als black signs on white paper. Dann gelte es,<br />
mit den Methoden quantitativer Textanalyse all jene black signs in Schubladen<br />
mit ganz bestimmten Etiketten hineinzulegen, um schließlich zu<br />
ermitteln, welche Klasse von black signs signifikant häufiger vorkomme<br />
als die anderen … Dass ich damit den meisten Sozialwissenschaftern<br />
Unrecht tat, merkte ich bald. Trotzdem war mir klar, dass es nun nicht<br />
mehr darauf ankam, den ästhetischen Gehalt eines Textes, sondern die<br />
erhellende Kraft seiner Begriffe sowie die empirische und theoretische<br />
Begründung seiner Aussagen über die soziale Wirklichkeit zu erkennen.<br />
Dass es auch Sozialwissenschafter gibt, die dem ästhetischen Gehalt eines<br />
sozialwissenschaftlichen Textes zentrale Bedeutung für seine wissenschaftliche<br />
Qualität beimessen, habe ich erst später gelernt. 4<br />
Der Leseasket<br />
Meine erste Begegnung mit einem Klagenfurter Studenten war für<br />
mich ein Prägeerlebnis: Ein junger Mann, den Tränen nahe, nähert sich<br />
schüchtern dem neuen Herrn Professor und teilt ihm mit, dass er sich in<br />
einer verzweifelten Situation befinde, weil er, natürlich völlig unverschuldet,<br />
eine Prüfung aus dem ersten Studienabschnitt versäumt habe und<br />
deshalb jetzt nicht zur Diplomprüfung antreten könne. Dies sei für ihn<br />
ganz persönlich, aber auch für seine ganze Familie eine Tragödie, nicht<br />
nur wegen der finanziellen Katastrophe, die ein verlängertes Studium<br />
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