linguistische
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Wir möchten im Folgenden eine Hypothese dazu formulieren, warum<br />
es so schwierig ist, das Schweigen über das Schreiben in der universitären<br />
Lehre zu brechen. Wir knüpfen dabei an eine Beobachtung des Friedensforschers<br />
und Wissenschaftstheoretikers Johan Galtung aus dem Jahr<br />
1983 an. In seinem Essay über Struktur, Kultur und intellektuellen Stil in<br />
der „sachsonischen, teutonischen, gallischen und nipponischen“ Wissenschaft<br />
stellt Galtung fest, dass traditionell in Deutschland (und übrigens<br />
auch in Frankreich) sozialisierte WissenschaftlerInnen im Gegensatz<br />
zu KollegInnen aus angelsächsischen Ländern typischerweise „schnurstracks<br />
auf den schwächsten Punkt“ (Galtung 1983, 309f) eines Vortrags<br />
zusteuern, sobald die Diskussion eröffnet ist. Ihr Ziel sei vor allem, genau<br />
darzustellen, was der Autor/die Autorin des Beitrags versäumt bzw.<br />
welche Fehler er/sie gemacht hat. Galtung beschreibt, wie eine typische<br />
Kritik im ‚teutonischen‘ Kontext keineswegs konstruktiv, im Geiste einer<br />
Unterstützung zur Weiterarbeit geäußert wird, sondern den Kritisierten<br />
zum „Angeklagten“ und zum „Opfer“ eines Rituals stempelt, in dem die<br />
Theorie der vom Kritisierenden jeweils vertretenen wissenschaftlichen<br />
Schule (vgl. Galtung 1983, 321f) verteidigt wird. Die ‚teutonische‘ Lehr-<br />
und Lernkultur negiert den „Fehler“ als stimulierenden Faktor, ja sie<br />
sucht ihn zu eliminieren. Galtung beschreibt die Effekte der beschriebenen<br />
Kritik-Kultur: WissenschaftlerInnen gehen bei der – mündlichen<br />
oder schriftlichen – Präsentation ihrer Forschungsergebnisse auf Nummer<br />
Sicher (ebd., 310), etablierte Theorien werden nur sehr selten in<br />
Frage gestellt, denn, so Galtung, wer dies in der traditionellen deutschen<br />
Universität tut, trägt die gesamte Beweislast und übernimmt eine „herkuleische<br />
Aufgabe“, die darin besteht, gleich eine ganz neue Theorieschule<br />
zu gründen (vgl. ebd., 322). Anders als die Theoriestile der anderen von<br />
Galtung skizzierten wissenschaftlichen Kulturen (Japan, Frankreich, die<br />
Angelsachsen) birgt der deutsche, typischerweise deduktiv-ableitende<br />
Theoriestil für die professionellen AkademikerInnen ein „ungeheures<br />
intellektuelles Risiko“: Falsifizierung nur einer einzigen These kann das<br />
gesamte Gebäude zum Einsturz bringen und damit den „intellektuellen<br />
Einsatz eines ganzen Lebens“ (ebd., 327). Kein Wunder, dass Lehrende<br />
vor allem über Gründe für die Richtigkeit der von ihnen vertretenen<br />
Positionen und nicht über ihre Erfahrungen mit gedanklichen Umwegen<br />
oder Schwierigkeiten beim – in der Regel schriftlich vermittelten – Produzieren<br />
ihrer Erkenntnisse sprechen, wenn das Äußern dieser Art von<br />
Zweifeln in der lokalen scientific community derart negativ sanktioniert<br />
wird.<br />
Nun sind es aber gerade solche gedanklichen Irr- und Umwege, Zweifel<br />
und Skrupel, also Schwierigkeiten mit den jeweiligen wissenschaftlichen<br />
„Inhalten“, Zweifel an der Verbindlichkeit und Reichweite eigener Aussagen,<br />
die hinter vielen Schreibschwierigkeiten stehen. Wahrscheinlich<br />
hängen viele Probleme, die Studierende der Jahrtausendwende beim<br />
Schreiben haben, sogar mit der Konkurrenz zwischen traditionell-regionalen<br />
und anderen, sich allmählich globalisierenden Auffassungen von<br />
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