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linguistische

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Unterteilungen, voller Unterunterteilungen und voller pedantischer<br />

Klassifikationen, die meinem romantischen Wesen weh tun … ich<br />

leide um so mehr darunter, als mir scheint, dass das Romantische<br />

meinem wahren Ich entspricht; während mein klassisches Bestreben<br />

mir wie ein Dämon erscheint, der mich an der Kehle gepackt<br />

hält und der mir brutal seinen Willen aufzwingt. Man könnte dieser<br />

Komödie, die manchmal zum Drama wird, den Titel geben: Der<br />

Klassiker wider Willen.<br />

Mein wahres Ich findet übrigens nicht, dass alle Klassifikation unnütz<br />

sei. Eine Klassifikation ist oft von didaktischen Notwendigkeiten diktiert.<br />

Nur so kann man den Gedanken der Schüler zur Klarheit verhelfen.“<br />

(Claparède 1942, 32ff.; Übersetzung: H. Ortner).<br />

„Die Sorgen möchte ich einmal haben!“, mag so mancher Novize des elaborierten<br />

Schreibens bei diesen Ausführungen denken!<br />

Die Sorgen hat er.<br />

Es sind klassische Sorgen – Ausdruck der Verhaltenskrise, die charakteristisch<br />

ist für den Übergang von den quasi natürlichen Formen der<br />

Mündlichkeit (und des Spontanschreibens) zum elaborierten Verhalten<br />

der (angehenden) Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. Es ist der<br />

Übergang vom persönlichen, spontan assoziativen (= additiven) Denken,<br />

wie es beim „locker Plaudern“ oder beim Spontanschreiben praktiziert<br />

wird, zur „streng logischen“, konzeptuellen Arbeit – entpersönlicht,<br />

deagentiviert (‚mettre au point‘ une question = ein Fragestellung auf den<br />

Punkt bringen); nicht von Lebewesen erzählen, sondern eine Fragestellung<br />

behandeln (Stichwort Deagentivierung s.o.). Die Antworten auf diese<br />

Fragestellung enthalten so viel an Komplexität, dass das Papier zu wenig<br />

Raum bietet, um all die Verzweigungen der Gedanken darzustellen, die in<br />

einen Zusammenhang gehören. Daraus ergeben sich, kennzeichnend für<br />

das elaborierte Schreiben generell: „Schwierigkeiten der Komposition“ =<br />

Schwierigkeiten bei der Darstellung der Zusammenhänge der Elemente<br />

des Wissens – aus all den Kaskaden von Differenzierungen, die die Logik<br />

erfordert. Verglichen mit der lebendigen Rede, dem lockeren Plaudern<br />

(bavarder familièrement) kann das Ergebnis des elaborierten Verhaltens<br />

nicht bestehen: „langweilige und aufgeblasene (wichtigtuerische) Trockenheit“<br />

(sécheresse ennuyeuse et pédante).<br />

Noch etwas, vielleicht das Wichtigste! Claparède spricht auch eine<br />

besondere Rollenproblematik an: ich wollte Eroberer sein und musste<br />

statt dessen den Klassiker geben (Klassiker hier nicht besonders positiv<br />

gemeint; die Unterscheidung zwischen klassischer und romantischer<br />

Wissenschaft war am Beginn des 20. Jahrhunderts ziemlich geläufig).<br />

Auch die Studierenden wollen „Beobachter sein, Forscher … Entdecker“<br />

(Experimentator vielleicht zunächst weniger). Und was müssen<br />

die romantischen Novizen (in ihrer Wahrnehmung) statt dessen sein?<br />

Systematisierer, „Organisator[en] von Wissen, … Macher von Überblicksartikeln<br />

[= z.B. Darstellung des Forschungsstandes], um eine Frage auf<br />

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