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irgendetwas vorzustellen. Verständigung mit Eichmann war unmöglich,<br />

[…] weil ihn der denkbar zuverlässigste Schutzwall gegen die Worte und<br />

gegen die Gegenwart anderer und daher gegen die Wirklichkeit selbst<br />

umgab“ (Arendt 1986, 78).<br />

Eichmanns verbale Hinterlassenschaften zeigen, in welchem Ausmaß<br />

die Abschottung und die Entfernung vom Spezifischen des Verbrechens<br />

durch Rede- und Schreibklischees erleichtert werden. Eichmann schloss<br />

alles aus seinem Bewusstsein aus, was die Eindeutigkeit der Zustimmung<br />

zu seinem System hätte stören können, und verleugnete alles, was mit<br />

diesem nicht kompatibel war. 4<br />

Leni Riefenstahl antwortete als Fünfundneunzigjährige auf die Frage, ob<br />

sie sich als eine widersprüchliche Natur erlebt: „Eigentlich nicht. Immer<br />

nur als Einheit […]. Ich widerspreche mir nicht – ich sage immer dasselbe,<br />

ob Sie mich vor fünfzig Jahren interviewt hätten oder jetzt.“ Riefenstahl<br />

kennt und will keinen Dialog mit sich und dem Zeitgeschehen, sie bleibt<br />

widerspruchsfrei, zweifelsfrei, fraglos, und das mit Stolz (Blastik 2000,<br />

17). Selbstveränderungen wären für sie gleichbedeutend mit einer charakterlichen<br />

Niederlage. Andere Argumente erreichen sie nicht. In ihren<br />

Memoiren schreibt sie: „Der mir so oft gemachte Vorwurf, ich hätte Propagandafilme<br />

gemacht, ist abwegig […]. An Propaganda habe ich während<br />

meiner Arbeit nicht einen Augenblick gedacht.“ (Riefenstahl 1996, 209f)<br />

Weil sie nicht an Propaganda gedacht hat, ist ihr Parteitagsfilm Triumph<br />

des Willens keine Propaganda. Die Anklagen von Opfern und Opferverbänden<br />

5 sind für sie nichts als freie Erfindung und feindliche Verleumdung.<br />

In Riefenstahls Memoiren oder Interviews findet sich keine Stelle,<br />

die auch nur andeuten würde, dass sie die Perspektive der Opfer an sich<br />

heranlässt und dass sie Einschätzungen auf ihre Arbeit zulässt, die sich<br />

von ihren immergleichen eigenen Sichtweisen unterscheiden. Vergebens<br />

sucht man nach Kommentaren wie „Damals dachte ich noch …“, „aber<br />

heute … fällt mir auf …“. Auch der innere Dialog mit den an sie herangetragenen<br />

Vorwürfen bleibt aus (Blastik 2000, 117).<br />

Wie Epidemien addierter Monologe wirken die fast gleich lautenden<br />

Aussagen normaler Männer und Frauen NS-Deutschlands, die die Ereignisse<br />

auch noch nach mehr als 50 Jahren so erinnern, als gäbe es nur<br />

ihre und nur ihre damalige Sicht, die Sicht nicht verfolgter Deutscher<br />

mit ihrer „glücklichen Kindheit“, von der sie gern erzählen. Ehemalige<br />

Berliner Schüler des Abiturjahrgangs 1940 erinnern sich an eine lustige,<br />

unpolitische Schulzeit und an das ungetrübt harmonische Verhältnis zu<br />

ihren drei jüdischen Mitschülern. Diese erinnern sich anders, zum Beispiel,<br />

dass sie von ihren nicht jüdischen Mitschülern auf die Schulhofsmauer<br />

getrieben und verhöhnt wurden – ein Ereignis, das im Gedächtnis<br />

der Deutschen nicht erwähnenswert oder einfach vergessen ist. 6<br />

Die Beispiele ließen sich endlos fortsetzen. Erinnert, gesprochen und<br />

geschrieben wird aus einer Perspektive, einer eingleisigen, eingefrorenen<br />

Sicht. Diese wird verallgemeinert, setzt sich nicht ins Verhältnis zu<br />

kissling_korr.1.indd 204 14.09.2006 11:10:08 Uhr

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