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Berliner Chronik, ‚so verdanke ich das zum guten Teil der zwanzigjährigen<br />

Beobachtung einer einzigen kleinen Regel. Sie lautet: das<br />

Wort „ich“ nie zu gebrauchen, außer in Briefen.‘ In Abhandlungen<br />

wie in Essays, meint Benjamin, kommt es darauf an, die behandelten<br />

Sachen so plastisch wie möglich erscheinen zu lassen. Der Schleier<br />

des Meinens raubt dem Gemeinten unnötig Licht und Kontrast. Das<br />

volle Niveau der philosophischen Schriftstellerei hätte demnach erst<br />

erreicht, wer die eigene Position ausdrücken kann, ohne sich selbst<br />

dabei ins Bild zu rücken.“ (Seel in Zeit 29/2000, Literatur 56).<br />

Den Schleier des Meinens, den darfst du nicht über deine Ausführungen<br />

legen! Gelingt dir eine Funktionsbeschreibung, in der jede<br />

Aussage auf intersubjektive Geltung hin angelegt ist, dann darfst du<br />

ich sagen, so oft du willst. Aber du wirst sehen, dann hast du das Problem<br />

gar nicht mehr. Und deinem Leser, wenn er kein oberflächenfixierter<br />

Pedant ist, wird beim Rezipieren deiner fundierten Aussagen<br />

gar nicht auffallen, ob und wie oft du ich sagst. Das Ich darf nur dem<br />

bloßen Meinen keine Schneise eröffnen, das ist der Sinn der oben<br />

zitierten Aussage von Benjamin. Leider ist das Meinen aber oft ein<br />

Kollateralschaden der Ich-Verwendung, darum das Gebot. 7<br />

(8) Das Spontanschreiben ist ein Entlang-von-Alltags-Makrostrukturen-Schreiben<br />

(Prototyp: das Erzählen). Beim elaborierten Schreiben<br />

dagegen sind besondere Wissenspräsentationszusammenhänge<br />

(also die Makrostruktur, die Struktur der Textsorte) zu beachten und<br />

durchzuhalten, die so nur in der Schriftlichkeit vorkommen und die<br />

spät (zwischen 14 Jahren und Ende nie) gelernt werden.<br />

Anders als etwa bei Erzählungen, deren Geschichtenstruktur fast wie<br />

ein Satzbauprogramm beherrscht wird, sind die Textsorten des akademischen<br />

Schreibens nicht schon aus der mündlichen Praxis vertraut.<br />

„Wie man sich ihrer [der Textsorten] bedient, lernt der junge<br />

Wissenschaftler in der altertümlichen Form der Meisterlehre, durch<br />

Nachahmung also“ (Weinrich 1989, 140). Und der studierende Wissenschaftsnovize,<br />

wie lernt sie der? Durch Modelllernen – erschwert<br />

durch die Tatsache, dass Langtext-Textsorten viel diffusere Normen<br />

haben als Kurztexte. „Je kürzer eine Textart ist, desto spezifischer<br />

und eindeutiger sind ihre Normen.“ (Coseriu 1988, 162). Für das<br />

Modelllernen sind aber prägnante … äußerst prägnante Modelle<br />

notwendig – oder a little help vom Meister bzw. seinen Assistenten.<br />

Das wäre dann gesteuertes, nicht ungesteuertes Modelllernen – ein<br />

Geheimrezept für Spracherwerb in kurzen Lernzeiten.<br />

Der Meister (oder sein Assistent) könnte vormachen, wie er Strukturforderungen<br />

der Textsorte auf die Strukturen projiziert, die die<br />

Sachverhalte bilden: Konstitutions- und Funktionszusammenhänge<br />

vor allem. – „Könnten Sie dafür ein, zwei Beispiele bringen“ merkt<br />

der Herausgeber dieses Bandes (Walter Kissling) zu diesem Satz<br />

an. Kann ich, denke ich und beginne in meinen zwanzig Jahre lang<br />

zusammengetragenen und beschlagworteten Fall-Aussagen zu wüh-<br />

kissling_korr.1.indd 92 14.09.2006 11:09:34 Uhr

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