linguistische
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weder gar nichts oder wenigstens nicht so klar, daß man die Gegenstände<br />
recht erkennen und voneinander unterscheiden kann: sobald<br />
Licht gebracht wird, klären sich die Sachen auf, werden sichtbar und<br />
können voneinander unterschieden werden.<br />
Eine wesentliche Folge dieses Unterscheidenkönnens ist Vorsicht und<br />
Rücksicht. „Im Dunkeln sieht man nicht, […] wo man hingeht noch was<br />
man tut, noch was um uns her ist […] man läuft Gefahr, anzustoßen,<br />
etwas umzuwerfen, zu beschädigen oder anzurühren, was man nicht<br />
anrühren sollte“ (Wieland zit. n. Bahr 1974, 23f). Unterscheidungen<br />
können also die Dinge nicht nur klären und verständlicher machen, sie<br />
können auch dazu führen, mit ihnen differenzierend, also spezifisch und<br />
somit angemessen umzugehen, sie in ihrer Eigenartigkeit zu achten, statt<br />
sie alle gleich zu behandeln, sie ihrer Besonderheit zu berauben, ihnen<br />
zu nahe zu treten und damit sie oder sich selbst zu verletzen. Die Dinge<br />
bekommen die Möglichkeiten, sich zu zeigen, wie sie sind.<br />
In den Wissenschaften vom Menschen tritt uns das Verschiedene<br />
vor allem in Gestalt der Vielfalt oder Kontroversen verschiedener Menschen<br />
und ihrer unterschiedlichen Perspektiven auf ein und denselben<br />
Gegenstand entgegen. Diese kann man systematisch sammeln und zu<br />
unterscheiden üben. Dafür kann man die eigene Vorstellungsfähigkeit in<br />
Anspruch nehmen, man kann aber auch mit verschiedenen Menschen<br />
reden und sie befragen. In Seminaren kann man sich einem Problem<br />
nähern, indem man seine verschiedenen Seiten aus den Perspektiven der<br />
Anwesenden auflistet. Man kann die Sicht eines prägnanten Ausgangstextes<br />
mit anderen Sichten ergänzen und kontrastieren, zum Beispiel die<br />
eines Palästinensers, der sich zur Gründung und Existenz- bzw. Nicht-<br />
Existenzberechtigung Israels äußert: Wie sah demgegenüber die Perspektive<br />
jüdischer Überlebender aus, wie die Perspektive zionistischer<br />
Organisationen, wie die Perspektive nicht jüdischer Deutscher der Nachkriegszeit,<br />
wie die Perspektive der Gesellschaften für christlich-jüdische<br />
Zusammenarbeit, wie die Perspektive amerikanischer Alliierter und wie<br />
die „neutrale Perspektive“ z.B. eines Schweizer Schriftstellers (vgl. Dürrenmatt<br />
1998) etc.? Man kann bei besonders kontroversen Themen und<br />
unversöhnlichen Meinungen einen fingierten oder realen Briefwechsel<br />
beginnen und sich dabei gegenseitig verpflichten, auf die jeweils andere<br />
Position dezidiert einzugehen, ein Versuch, der im direkten Kontakt meist<br />
misslingt, weil Angriff und Verteidigung die Aufnahme und Anerkennung<br />
der jeweils anderen Sicht und damit den Dialog unmöglich machen.<br />
Das Interesse am Gegenüber, dem man, um schreiben zu können, etwas<br />
abgewinnen muss, zwingt dazu, die eigenen Blindheiten gegenüber den<br />
unpassend erscheinenden Seiten der Sache aufzugeben, konfrontiert also<br />
immer auch mit dem eigenen Nicht-Wissen, mit eigenen Vorurteilen,<br />
Borniertheiten, Selbstgerechtigkeiten, also mit der Person selbst.<br />
Dieses Vorgehen führt mitunter auf ein unsicheres Feld, in dem sich<br />
mehr Ambivalenzen als Gewissheiten finden. Der Sinn solcher Annähe-<br />
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