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linguistische

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ungen liegt nicht darin, zur richtigen und gültigen Erkenntnis und Problemlösung<br />

zu kommen, sondern darin, der fundamentalen Bejahung<br />

des Gesprächs Ausdruck zu verleihen und das Gespräch aufrechtzuerhalten<br />

– im eigenen Kopf und in den Köpfen potentieller Rezipienten, die<br />

an dem Problem mit- und weiterdenken sollen. Dialogisches Schreiben<br />

ist, wie gesagt, keine Technik. Aber man merkt einem Text an, ob sein<br />

Urheber/seine Urheberin dialogisch denkt. Das zeigt sich im Vermeiden<br />

von Floskeln und Versatzstücken, in der Bejahung offener Ausgänge, im<br />

Misstrauen gegenüber absoluten Aussagen und totalen Begründungen,<br />

gegenüber allen Gesamtschauen, Gesamtkomplexen, Gesamtüberblicken,<br />

im Reden nicht nur mit Gleichgesinnten, im Argumentieren mit<br />

den Kehrseiten und Gegenseiten, in der Bezugnahme und Rückbezugnahme<br />

auf andere Stimmen, im Benennen von Einflüssen durch andere<br />

Erfahrungen und Köpfe, im Zweifel also gegenüber der Alleingültigkeit<br />

der eigenen Sicht und damit in einer Wende von der Unbescheidenheit<br />

zur Skepsis. Wie das skeptische Denken ist dialogisches Denken der Entschluss<br />

zu einem vorläufigen Denken. Die Skeptiker sind „nicht die, die<br />

prinzipiell nichts wissen; sie wissen nur nichts Prinzipielles“ (Marquard<br />

2003, 24). Das betrifft auch die dialogische Haltung, insofern sie nicht die<br />

Apotheose der Ratlosigkeit, sondern der Abschied vom Prinzipiellen ist.<br />

Unter diesen Voraussetzungen kann in einem Text ein Mosaik entstehen,<br />

mit dem Gedankenräume sich vervielfältigen, Problemhorizonte<br />

sich erweitern und Brücken zwischen irreduzierbaren Verschiedenheiten<br />

gebaut werden. Der Text organisiert sich eher im Einkreisen des Stoffs<br />

als in seiner linearen „Durch-führung“. „Was auf diese Weise entsteht,<br />

ist weder ein System noch eine Struktur, sondern eine Karte, auf der verschiedene<br />

Gedankenkonstellationen netzartig miteinander verbunden<br />

sind, wo es aber zugleich Stellen gibt, die sich nicht mehr glatt aneinanderfügen,<br />

und wo Brüche, Lücken und offene Enden sichtbar bleiben.“<br />

(Arendt 1950–1973, 853) In ihrem Denktagebuch bezeichnet Hannah<br />

Arendt das Zitat als Zeugen und als Freund (Arendt 1950–1973, 756<br />

u. 850ff). Zwischen Freunden besteht Nähe und Distanz zugleich, und<br />

Freundschaft erweist sich nicht zuerst in der Übereinstimmung der Perspektiven,<br />

sondern in deren Unterschied (Thürmer-Rohr 2001, 137ff).<br />

Das „Zitat als Freund“ wird damit zum eigenständigen Gegenüber, mit<br />

dem als einer unterscheidbaren anderen Perspektive erst die Auseinandersetzung<br />

eröffnet werden kann. So entsteht ein Geflecht von Stimmen,<br />

ein Chor vielfältigster Positionen, die am Problem mitsprechen und miteinander<br />

kämpfen (vgl. Chaumont 2001), so dass man sich beim Lesen<br />

in einem Gewebe von Perspektiven wiederfindet, in dem man zwar die<br />

Stimme des Autors identifizieren kann, sich aber nicht einfach anschließen,<br />

also identifizieren muss, sondern aufgefordert ist, eine eigene Position<br />

– so vorläufig sie sein mag – zu finden (vgl. z.B. Zuckermann 1999).<br />

Sich den Dingen von verschiedenen Seiten zu nähern und so den Einblick<br />

in die Realitäten zu erweitern ist ein Weg, um auf das Verstehen hinzuarbeiten.<br />

„[Z]u diesem Verstehen gehört auch das Schreiben. Schrei-<br />

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