linguistische
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zu wenig Zeit zum Lesen. Und wir ärgern uns mächtig, wenn Referate<br />
gehalten werden, die wir uns anhören müssen (Anwesenheitspflicht),<br />
bei denen die Vortragenden den Text nicht gegessen, schon gar nicht<br />
verdaut haben. Und weil das auch für die Vortragenden wenig befriedigend<br />
ist, werden von solchen ReferentInnen vor der Präsentation noch<br />
Regieanweisungen abgegeben, wie: „Bitte fragt’s nix“, oder „Wos sull der<br />
ganze Multi-Kulti-Schass?“ (in einem Seminar, das Multikulturelle Arbeit<br />
heißt!). Die Trennlinie verläuft zwischen Lesenden und Nichtlesenden.<br />
Es leiden also alle Lesenden.<br />
Die nicht lesenden Studierenden – die leiden weniger, die erkennt man<br />
eher daran, dass sie entweder aggressiv werden oder verstummen, wenn<br />
sie einen Text nicht verstehen. Statt sich mit ihm genauer auseinander zu<br />
setzen, schimpfen sie auf die Uni oder rollen überhaupt völlig stumm in<br />
ihrer eigenen Seifenblase am Studium vorbei.<br />
Aber es gibt auch Lehrende, die nur scheinbar neue Texte lesen, weil<br />
sie beim Lesen immer noch das suchen, immer nur das sehen (wollen),<br />
was sie vor zwanzig Jahren schon suchten/wussten, als sie ihre Doktorarbeit<br />
schrieben. Lehrende, die nur sich selbst lesen. Diese Sorte steckt<br />
nicht zum Lesen an (glücklicherweise). Andererseits vergessen begeisterte<br />
LeserInnen möglicherweise zu leicht, wie sie zum Lesen gefunden<br />
haben; denn wenn man erst mal gerne liest, erscheint Leselust als etwas<br />
Selbstverständliches. Doch dass es oft eines spannenden Eintrittsabenteuers<br />
bedarf, das haben Sie in Ihrem Text sehr gut rübergebracht.<br />
Wissen Sie, dass in den Techniken wissenschaftlichen Arbeitens – erster<br />
Studienabschnitt unseres Pädagogik-Studienplans – „Lesen“ als Punkt gar<br />
nicht vorkommt? Indirekt lernt man somit schon in der Studieneingangsphase,<br />
dass es nicht aufs Lesen ankommt, schon gar nicht aufs gekonnte,<br />
sondern bestenfalls aufs richtige Abschreiben (dazu sollte man auch lesen<br />
können, aber …). Und Konversatorien, die als Angebot zur kommunikativen<br />
Verarbeitung des Gelesenen dienen könnten, die gibt es so gut<br />
wie gar nicht, höchstens in der Pflichtenglischstunde. Die Angst, damit<br />
könnten sich zu viele ein billiges Scheinchen erwerben, geht da wohl um.<br />
Es fehlt das (Selbst-)Vertrauen, dass durch kompetente Leitung Studierende<br />
für das Lesen gewonnen werden könnten. Was wäre schon dabei,<br />
wenn man/frau pro Semester eine Arbeit weniger schriebe und dafür ein<br />
(1!) Konversatorium besuchen könnte/dürfte. Das ist nicht eine Frage des<br />
Wollens – das geht schlichtweg nicht. Weil es kein Lese-Verarbeitungsangebot<br />
gibt. Auch Proseminare und Seminare leisten das nicht.<br />
Ich denke, diese hier genannten Mängel, die sich nicht nur auf Studierende<br />
beziehen, sind wichtige Komponenten, die auch mitgedacht<br />
gehören. Ich merke doch laufend, an welch enge Grenzen ich bei mir<br />
selbst stoße, wenn mir ein Buch gefällt und ich jemandem darüber<br />
erzählen möchte. Dafür fehlt mir gänzlich das Training. Das Lesen wird<br />
der/dem Studierenden selbst überlassen – aber alleine kommt man halt<br />
nur im Schneckentempo weiter. Glauben Sie ja nicht, dass es allgemein<br />
üblich sei, in Seminaren am Text zu diskutieren! Nach einem Durch-<br />
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