04.12.2012 Aufrufe

linguistische

linguistische

linguistische

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

gier – vielleicht auch das Erschrecken – gegenüber den verschiedenen<br />

Aspekten eines Problems ebenso wie über den Raum, der der Darlegung<br />

dieser Aspekte zugebilligt wird.<br />

Der Versuch, sich den widersprüchlichen Dingen dialogisch zu nähern,<br />

wirkt sich auf den Text inspirierend und strukturierend zugleich aus. Ein<br />

Text, der tot und leer bleibt und über das Montieren von Versatzstücken<br />

nicht hinauskommt, verrät den ausgebliebenen Dialog mit seinem Stoff und<br />

das ausgebliebene innere Zwiegespräch, das die Schreibenden in Gesellschaft<br />

hält, auch wenn sie allein sind. Wenn wir denken, sind wir keine Einheit<br />

und Einzahl, nicht „eins“ und somit auch nicht ein-sam. Wenn das innere<br />

Gegenüber, das einen „erwartet, wenn man nach Hause kommt“ (Arendt<br />

1979, 190), schweigt, bleibt man zweifelsfrei, hört auf zu denken und kann<br />

nicht schreiben. Wie das Denken braucht das Schreiben fingierte, virtuelle<br />

Dialoge, die nicht die Anwesenheit, sondern die Vorstellung des Anderen<br />

– des anderen Menschen, des anderen Gedankens – verlangen. Und wie<br />

das Denken ist auch das Schreiben Ausdruck der Pluralität des Ichs, die<br />

sich darin zeigt, dass wir uns selbst Fragen stellen und Fragende und Antwortende<br />

zugleich sein können, dass wir uns also vorstellen können, was<br />

nicht mit uns identisch ist, was dem eingefleischten Meinungsbesitz widerspricht<br />

und den eigenen Erfahrungshorizont überschreitet.<br />

Wenn man den Mängeln des Schreibens über die Beschäftigung mit<br />

dem dialogischen Denken beziehungsweise dem monologischen Nichtdenken<br />

beikommen will, verspricht das allerdings noch nicht den schnellen<br />

Schreib-Durchbruch. Das Schreiben wird nicht einfacher. Es wird<br />

anders. Zwar kann man vieles lernen. Zunächst muss man lernen, zu<br />

unterscheiden. Wenn man alles in einen Topf wirft und Verschiedenes zu<br />

einem Einheitsbrei verrührt, hat man die Voraussetzungen zum dialogischen<br />

Umgang mit den Dingen bereits zerstört. Man kann nur klar sehen,<br />

was verschieden ist, und Verschiedenes nur wahrnehmen, wenn man klar<br />

sieht, man kann nur definieren, wenn man Unterschiede erkennt und<br />

Unterscheidungen macht. Wer z.B. sagt, Ideologien sind Religionen oder<br />

Religionen sind Ideologien, macht keine von beiden kenntlich und vernebelt<br />

alle charakteristischen Unterschiede, die wissenschaftliche Arbeit<br />

gerade schärfen und erhellen soll (Arendt 1994, 325). Wie in einem wirklichen<br />

Gespräch kann man nur mit Gedanken in Dialog treten bzw. nur<br />

Gedanken in Dialog bringen, die nicht gleich und egal sind, sondern sich<br />

voneinander unterscheiden lassen. Das verlangt zunächst nichts anderes<br />

als einen sorgfältigen Umgang mit der Sprache, die meist sehr genaue<br />

Instrumente der Unterscheidung bereithält.<br />

Die Bedeutung des Unterscheidens ist eine aufklärerische Wieder-Entdeckung<br />

gewesen. Christoph Martin Wieland antwortete auf die Frage<br />

„Was ist Aufklärung?“:<br />

Das weiß jedermann, der vermittelst eines Paars sehender Augen<br />

erkennen gelernt hat, worin der Unterschied zwischen Hell und<br />

Dunkel, Licht und Finsternis besteht. Im Dunkeln sieht man ent-<br />

kissling_korr.1.indd 207 14.09.2006 11:10:09 Uhr<br />

207

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!