linguistische
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dass auch ihre Hochschullehrenden die Antworten nicht schon parat<br />
haben und sie (auf welche Weise?) erst herausfinden müssen. 9 Hier –<br />
und warum nicht auch „schon“ in einem Proseminar der Studieneingangsphase?<br />
– wird ein Stück weit sichtbar, dass die Verfertigung der<br />
Gedanken beim Reden eine „allmählige“ ist (vgl. Kleist 1989 [1805/06]:<br />
535ff u. 1119ff) und ähnlich wie das Schreiben Anläufe, Phasen und Zeit<br />
benötigt. Solche Erfahrungen sind für das Schreiben Studierender deshalb<br />
so wichtig, weil viele die irrige Vorstellung haben, dass die zumeist<br />
gelungenen Texte, die ihnen zur Lektüre vorgesetzt werden oder die sie<br />
selbst aufgefunden haben, von ihren VerfasserInnen gleich auf das Erstemal<br />
so entschieden hingeschrieben worden seien, wie sie nun vorliegen.<br />
Viele Studierende haben keine Vorstellung von der Arbeit am Text als<br />
einer Arbeit an Fassungen. Waren die Schularbeiten nicht in der Erstfassung<br />
abzugeben? Waren SchülerInnen nicht schon froh, wenn sie vor<br />
der Abgabe ihrer Arbeit noch Zeit für ein eiliges „Durchlesen auf Rechtschreibfehler“<br />
fanden? 10<br />
Aufgrund falscher Vorstellungen über das Schaffen von Wissen verzweifeln<br />
manche Studierende, sobald ihnen zugemutet wird, selbst wissenschaftliche<br />
Arbeiten zu schreiben und dabei im Grunde denselben<br />
Prinzipien zu folgen, die ihren schönen Lehrveranstaltungstexten eigen<br />
sind. Es ist daher nicht allzu verwunderlich, wenn in solchen Situationen<br />
die Neigung entsteht oder bestärkt wird, sich lieber vorhandenes Wissen<br />
„anzulernen“ oder es zu kompilieren, als neues Wissen zu produzieren.<br />
Wenn dem wissenschaftlichen Arbeiten, dem Generieren von Wissen<br />
und dem Textverfertigen immer weniger Raum im Studium zur Verfügung<br />
stünde und daher immer weniger AbsolventInnen diese Kompetenzen<br />
erworben hätten, wäre die Besetzung der wenigen freien DoktorandInnenstellen<br />
an Universitäten noch das verhältnismäßig kleinste<br />
Problem; wesentlich schwieriger, wenn nicht unmöglich, erwiese sich<br />
aber die Rekrutierung einer großen Zahl gut ausgebildeter AbsolventInnen<br />
für Wirtschaft, öffentlichen Dienst, Non-Profit-Organisationen etc.<br />
Und wie sähe schließlich das öffentliche Leben aus, wenn jener Teil rationaler<br />
Argumentation und verschriftlichten selbstkritischen Denkens, den<br />
bisher HochschulabsolventInnen beigesteuert haben, ausfiele? (Ich denke<br />
dabei auch an die große und künftig vermutlich größte Gruppe Studierender,<br />
die ihr Studium bereits mit dem Bakkalaureat abschließen werden<br />
bzw. abschließen müssen.) Dem Bereich der Politik sowie den politikbestimmenden<br />
Kräften würde solcherweise die Möglichkeit eröffnet,<br />
ihr Handeln weniger als bisher in einem rationalen öffentlichen Diskurs<br />
legitimieren zu müssen, weil weniger Menschen an ihm teilzunehmen<br />
vermögen. Warum z.B. sollte man eine Qualitätszeitung lesen, wenn man<br />
keine Differenzierungsfähigkeit für Textqualität, für Argumentation hat?<br />
Zusammenfassend: Wissenschaftliches Schreiben als Erkenntnisprozess,<br />
und mehr noch das Erlernen wissenschaftlichen Schreibens als einen<br />
Erkenntnisprozess, benötigen ausreichend Studienzeit und optimale Partizipation<br />
Studierender an seminaristischen Lehrveranstaltungen. Undif-<br />
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