linguistische
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anderen Perspektiven, bleibt ihnen gegenüber indifferent oder bedürfnislos,<br />
assimiliert sie oder gemeindet sie ein, löscht sie also im Ergebnis<br />
aus. Auch im Nachhinein geben die erzählenden, sich erinnernden oder<br />
schreibenden Personen keinerlei Hinweis darauf, dass die andere Erfahrung<br />
irgendwann in ihrem Bewusstsein auftaucht, in irgendeiner Weise<br />
auf ihr Denken und auf die Relativierung ihrer zementierten Wahrheit<br />
Einfluss nimmt. Auch in der Retrospektive bleibt das Andere der eigenen<br />
Erfahrung irrelevant, abwesend oder amputiert (Theweleit 1995, 98–106).<br />
In ihrer monologischen Sprache erweisen und verraten sich die Träger<br />
als Mitbürger der Henker. 7 Denn die Eindimensionalität ihrer Sicht und<br />
die Undurchlässigkeit ihres Bewusstseinsraums setzt die verweigerte<br />
Anerkennung der Anderen fort und kommt ihrer erneuten Vernichtung<br />
gleich. Was bleibt, ist eine opferreine Erinnerung, die einer symbolischen<br />
Wiederholung des Verbrechens, einer Form von Auslöschungspolitik<br />
gleichkommt (Chaumont 2001, 49).<br />
Dialogisches Erinnern, wie es sich im Schreiben spiegelt, fängt an mit<br />
der Differenz zwischen dem erinnerten Ich der Vergangenheit und dem<br />
erinnernden Ich der Gegenwart (Chaumont 2001, 124). Die zurückliegenden<br />
Wahrnehmungen sind zwar Fakten, an ihnen lässt sich nachträglich<br />
nicht manipulieren, aber Menschen ist zuzutrauen, frühere Erfahrungen<br />
aus gegenwärtiger Perspektive neu einzuschätzen und die eigenen<br />
gewalttätigen Grenzen und Externalisierungen zu erkennen. André Hellers<br />
Filmdokumentation Im toten Winkel, der die Erinnerungen von Hitlers<br />
persönlicher Sekretärin Traudl Junge festhält, zeigt zumindest in<br />
Ansätzen die Diskrepanz, die sich der Erzählerin zwischen ihren fotografischen<br />
Erinnerungen aus der Zeit von Dezember 1942 bis zu Hitlers<br />
Selbstmord, dem 30. April 1945, auftut und ihren späteren verzweifelten<br />
Fragen nach der eigenen Naivität, Gedankenlosigkeit und Mittäterschaft.<br />
Traudl Junges Aufzeichnungen, ein 170-Seiten-Text aus dem Jahr 1947,<br />
der erst 2002 veröffentlicht wurde (vgl. Junge 2002), hatten den Alltag<br />
im Führerhauptquartier aus einer einzigen Perspektive beschrieben. Die<br />
Darstellung bleibt quälend gefesselt an einen Blickwinkel, den eines weiblich-familiaren<br />
Wir, zu dem sogar das Zentrum der NS-Herrschaft sich<br />
hinmodeln ließ, solange die Autorin keine Fragen stellte und ihr Blick<br />
keine Sprengung durch seine Kehrseiten erfuhr. Was sie nicht persönlich<br />
betraf, erreichte sie nicht. Sie war aber auch nicht gefragt worden. Sie<br />
hatte in der Nachkriegszeit vom kollektiven Schweigen und großen Frieden<br />
mit den Tätern profitiert, und niemand hatte sich für ihre Geschichte<br />
interessiert. Der Film lässt nun die 80-Jährige sprechen und zeigt eine<br />
andere Frau, eine, die Fragen hat, aber keine Antwort weiß – ein Dokument<br />
der Hilflosigkeit, der ausweglosen Schuldsuche, gleichzeitig aber<br />
auch der Würde, das Dokument einer Zeitzeugin im schmerzhaften Dialog<br />
mit sich selbst, die ihr Gewissen nicht betrügen will.<br />
Ganz andere Beispiele lassen sich bei „unbelasteten“ Menschen der<br />
jungen Generation finden. Kürzlich erschien eine Textsammlung, in der<br />
deutsche Student/innen verschiedener Fachrichtungen sich zu ihren Kon-<br />
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