Offene Tore 2000 - Orah.ch
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OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 136<br />
dern sie werden ihm davonlaufen, weil sie die Stimme der Fremden ni<strong>ch</strong>t kennen." (Joh<br />
10,3-5). Dieses Sensorium hat si<strong>ch</strong> die Gemeinde immerhin bewahren können, die instinktive<br />
Erkenntnis dessen, der es gut mit ihr meint. Der Inhalt der Rede ist dabei belanglos,<br />
die Unters<strong>ch</strong>eidung des guten Hirten von den s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>ten gelingt dur<strong>ch</strong> die<br />
Stimme. Den Inhalt göttli<strong>ch</strong>er Offenbarungsreden können wir oft ni<strong>ch</strong>t von Grund auf<br />
beurteilen, aber wir können darauf a<strong>ch</strong>ten, ob in den Worten die Stimme des guten Hirten<br />
erkennbar ist, der wir uns dann anvertrauen können, au<strong>ch</strong> wenn wir ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>on im<br />
vorhinein wissen, wohin sie uns führen wird.<br />
Die selbstlose Liebe des guten Hirten zeigt si<strong>ch</strong> darin, dass er sogar sein Leben für die<br />
S<strong>ch</strong>afe einsetzt (Joh 10,11). Darin unters<strong>ch</strong>eidet er si<strong>ch</strong> von den Lohnarbeitern, denen<br />
das Leben der S<strong>ch</strong>afe ni<strong>ch</strong>t das hö<strong>ch</strong>ste Gut ist. Ihnen geht es primär um den Lohn, um<br />
das Leben der S<strong>ch</strong>afe hingegen nur insoweit, als si<strong>ch</strong> damit Gewinne erwirts<strong>ch</strong>aften lassen.<br />
"Der Lohnarbeiter, der ni<strong>ch</strong>t Hirte ist, dem die S<strong>ch</strong>afe ni<strong>ch</strong>t gehören, der sieht den<br />
Wolf kommen und lässt die S<strong>ch</strong>afe im Sti<strong>ch</strong> und flieht, und der Wolf reißt und versprengt<br />
sie. Denn er ist ein Lohnarbeiter, und ihm liegt ni<strong>ch</strong>ts an den S<strong>ch</strong>afen." (Joh<br />
10,12f). Indem Jesus ganz und gar für die S<strong>ch</strong>afe lebt, ihr Wohlergehen zu seinem Lebensinhalt<br />
ma<strong>ch</strong>t, überwindet er die der Mens<strong>ch</strong>heit seit dem ersten Brudermord eingebrannte<br />
Natur. Diesen Bezug zu Genesis 4 hat Arthur S<strong>ch</strong>ult gesehen: "Im Gegensatz zu<br />
jener Kains-Natur, die da fragt: 'Bin i<strong>ch</strong> der Hüter meines Bruders?' und si<strong>ch</strong> in si<strong>ch</strong> selber<br />
abs<strong>ch</strong>ließt, ist der gute Hirte aufges<strong>ch</strong>lossen für alle Nöte seiner Mitmens<strong>ch</strong>en und<br />
opfert si<strong>ch</strong> in selbstloser Liebe für sie auf." 110 Abel, nota bene der S<strong>ch</strong>afhirt, wurde von<br />
Kain, der dem Irdis<strong>ch</strong>en dient (Ackerkne<strong>ch</strong>t), s<strong>ch</strong>on zu Beginn der Mens<strong>ch</strong>eitsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />
ausgerottet, so dass seitdem die Verantwortungslosigkeit und Gefühlskälte in Gestalt<br />
der Kainsfrage "Bin i<strong>ch</strong> der Hüter meines Bruders?" die Signatur der gefallenen<br />
Mens<strong>ch</strong>heit ist. Jesus, der Abel der neuen S<strong>ch</strong>öpfung, ri<strong>ch</strong>tete das alte Ideal der Für-<br />
Sorge anstelle der Selbst-Sorge wieder auf. Allerdings konnte die Kainsmens<strong>ch</strong>eit au<strong>ch</strong><br />
dieses gere<strong>ch</strong>te Opfer, au<strong>ch</strong> diesen hingebungsvollen Lebenseinsatz, wiederum ni<strong>ch</strong>t ertragen<br />
und bra<strong>ch</strong>te den neuen Abel um. Do<strong>ch</strong> auf diesen Karfreitag folgte ein Ostermorgen.<br />
Dem 10. Kapitel s<strong>ch</strong>ließt si<strong>ch</strong> die Auferweckung des Lazarus an, wel<strong>ch</strong>e die bösen Hirten<br />
zu dem Ents<strong>ch</strong>luss treibt, Jesus töten zu wollen (Joh 11,53). Damit beginnt die Passionsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te.<br />
Das 10. Kapitel ist somit der Höhepunkt der Selbstoffenbarung des Vaters<br />
in der Gestalt des Sohnes. Jesus offenbart seine Einheit mit dem Vater, ja eigentli<strong>ch</strong><br />
sogar die Anwesenheit des Vaters in der Leibli<strong>ch</strong>keit Jesu. Anläßli<strong>ch</strong> des Tempelweihfestes<br />
sagt Jesus: "I<strong>ch</strong> und der Vater sind eins" (Joh 10,30) und ebenso, "dass in mir der<br />
Vater ist und i<strong>ch</strong> im Vater bin" (Joh 10,38). Das Tempelweihfest erinnert die Juden an<br />
110 Arthur S<strong>ch</strong>ult, Das Johannes-Evangelium als Offenbarung des kosmis<strong>ch</strong>en Christus, 1965, 237.