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Modalverben - ein Klassenkampf - German Grammar Group FU Berlin

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sollen tritt in zahlreichen historischen Belegen, die das DWB anführt, mit an<br />

Sicherheit grenzender Wahrsch<strong>ein</strong>lichkeit tatsächlich als transitives Vollverb<br />

auf, wie zum Beispiel in (1):<br />

(1) Duo debitores erant cuidam foeneratori: unus debebat denarios<br />

quingentos, alius quinquaginta.<br />

Zuêne sculdîgon uuârun sihuuelîhemo inlîhere: <strong>ein</strong> solta finfhunt<br />

pfenningo, ander solta finfzug. (Tatian 138,9)<br />

Dieser Vorläufer des gwd sollen ließe sich aber nach ”heutigem<br />

Sprachgefühl” ohneweiters auch als Ellipse interpretieren (zum Beispiel<br />

durch <strong>ein</strong>e Ergänzung mit geben oder bezahlen), was aber ziemlich sicher<br />

nicht der Auffassung <strong>ein</strong>es Sprechers des Ahd entspräche, wie die<br />

lat<strong>ein</strong>ische Vorlage nahelegt. Am ehesten wäre solan hier mit schulden zu<br />

übersetzen. Der Sprachwandel ist im Beispiel von sollen soweit<br />

vorangeschritten, daß die Sprecher der verschiedenen Epochen die gleiche<br />

Konstruktion völlig verschieden analysieren und interpretieren. In diesem<br />

Aspekt hat sich die nhd Grammatik in <strong>ein</strong>em derartigen Maße von jener des<br />

Ahd. wegentwickelt, sodaß der transitive Gebrauch von solan im Ahd. aus<br />

heutigem Blickwinkel nicht ohne weiteres nachzuvollziehen ist. Vielmehr<br />

verleitet die noch offenkundige Ähnlichkeit in der Lexik der beiden<br />

Sprachstufen den nhd Sprecher dazu, dem Verb die gleichen syntaktischen<br />

Eigenschaften wie dessen nhd Abkömmling zu unterstellen und somit s<strong>ein</strong><br />

eigentliches syntaktisches Verhalten zu verkennen. Sozusagen verstellt uns<br />

unsere erworbene Grammatik des Gwd den Blick auf jene des Ahd. In<br />

Termini, die wohl der Autor des DWB-Artikel verwenden würde: das heutige<br />

Sprachgefühl entspricht nicht durchwegs jenem vergangener Epochen.<br />

Einem ähnlichen Leitgedanken folgt Lightfoot (1979: 35) wenn er fordert, daß<br />

ältere Grammatiken unabhängig erforscht und nicht nur aus gegenwärtigen<br />

Grammatiken abgeleitet werden sollen, um für Thesen der synchronen<br />

Syntaxtheorie Evidenz zu liefern.<br />

Aus dieser Feststellung ergeben sich erhebliche methodologische<br />

Einschränkungen. Da sich unsere kognitiven Grammatiken von jenen<br />

früherer Sprachstufen unterscheiden, fehlt uns die Möglichkeit, mit<br />

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