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FC287a, Kleinwüchsige Menschen in Ausbildung und Beruf Teil

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Tanja Gebhardt, Magdeburg<br />

Skepsis<br />

Tanja Gebhardt, 38 Jahre alt, lebt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er teilweise leerstehenden Plattenbausiedlung am Rand von<br />

Magdeburg. Sie wohnt alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Appartement. Musik ist ihre große Leidenschaft, sie<br />

ist aktives Mitglied <strong>in</strong> mehreren Fanclubs deutscher Schlagersänger, besucht deren Konzerte, die sie<br />

dann <strong>in</strong> den Westen führen. Sie ist 1,35m groß, Diagnose Hypochondroplasie.<br />

Tanja Gebhardt beendet die Regelschule mit durchschnittlichen Noten, wird „berufsgelenkt“ zur<br />

Schreibkraft, e<strong>in</strong>e <strong>Ausbildung</strong> die zunächst nicht ihren <strong>Beruf</strong>swünschen entspricht.<br />

„Eigentlich wollte ich das nicht so machen, ich wollte eigentlich K<strong>in</strong>dererzieher<strong>in</strong> werden oder was<br />

mit Musik machen. Das g<strong>in</strong>g nicht. Da haben sie mich wegen Zensuren erstmal nicht genommen<br />

<strong>und</strong> wegen der Größe. Und ich wollte was mit Musik machen, da wollte ich Gitarre lernen <strong>und</strong> da<br />

haben sie mich nicht genommen, weil ich so kle<strong>in</strong>e Hände habe. Aber auch wegen der Noten“.<br />

Doch mit Aufnahme e<strong>in</strong>es Arbeitsverhältnisses <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Magdeburger Amt beg<strong>in</strong>nt die Arbeit, ihr<br />

mehr Spaß zu machen. Die Umbruchsituation der Wende verfolgt sie eher distanziert:<br />

„Die Wende? Ich habe mir das im Fernsehen angeguckt <strong>und</strong> b<strong>in</strong> nicht zu den Demos gegangen, das<br />

war mir alles zu krim<strong>in</strong>ell, zu gefährlich“.<br />

Ihre Abteilung wird nach der Wende komplett von e<strong>in</strong>em westdeutschen Versicherungskonzern<br />

übernommen. Als die ersten Kündigungswellen e<strong>in</strong>setzen, wird Tanja Gebhardt aktiv.<br />

„Als es hieß, dass Entlassungen kommen, da habe ich mir gleich e<strong>in</strong>en Kündigungsschutz geholt.<br />

Da habe ich mich gleich auf die Spur gemacht. Ich b<strong>in</strong> zum Amt für Familie <strong>und</strong> Soziales gegangen<br />

wegen dem Gleichstellungsantrag. Da hatte ich auch ziemlich schnell Bescheid, dass ich 30% habe,<br />

aber die Gleichstellung habe. Das war mir mit der Arbeit wichtig, weil das so unsicher war“.<br />

Sie <strong>und</strong> e<strong>in</strong>ige Kollegen werden übernommen. Es ist deutlich, dass sie den alten Zeiten nachtrauert,<br />

<strong>in</strong> denen es ihrer Ansicht nach im Team mehr soziales Mite<strong>in</strong>ander gab. Gerade, weil sie alle<strong>in</strong> ist,<br />

ist ihr dieser Aspekt ihrer Arbeitstätigkeit wichtig. Obwohl also jetzt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Westfirma arbeitend,<br />

hat sie zu Kollegen aus dem Westen so gut wie ke<strong>in</strong>en Kontakt, ihr <strong>in</strong>nerer Kompass ist nach wie<br />

vor auf „Osten“ ausgerichtet.<br />

„Ich b<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong> gutes Kollektiv gekommen, von den Kollegen, von der Chef<strong>in</strong> her. Wir s<strong>in</strong>d knapp<br />

über 30 Mann. Die s<strong>in</strong>d alle aus dem Osten außer e<strong>in</strong>em Mann. Der ist aus dem Westen hier rübergekommen.<br />

Das Arbeitsklima ist gut. Vorher war ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er anderen Abteilung bis vor 3 Jahren.<br />

Aber die Chef<strong>in</strong> jetzt setzt sich mehr e<strong>in</strong> für die Kollegen, die kämpft da. Wir machen auch was zusammen<br />

<strong>in</strong> unserem Kollektiv, gerade Weihnachten. Das ist schön. Das war <strong>in</strong> der anderen Abteilung<br />

nicht so“.<br />

Das E<strong>in</strong>zige, was sie der verme<strong>in</strong>tlichen „Übernahme“ der ehemaligen DDR durch den Westen abgew<strong>in</strong>nen<br />

kann, ist der größere Bewegungsradius.<br />

„Gut, ich kann jetzt mehr wegfahren, wo ich vorher nicht h<strong>in</strong>konnte, aber ansonsten?“<br />

Ihre Welt wurde durch die Wende <strong>in</strong>stabiler <strong>und</strong> bedrohter, es gab plötzlich ke<strong>in</strong>e Sicherheit mehr,<br />

ke<strong>in</strong>e Garantie auf Arbeit <strong>und</strong> Wohnung, ke<strong>in</strong>e politische Identität. In ihren Augen liegt die Schuld<br />

an der Pleite vieler Ostfirmen nicht an deren maroder F<strong>in</strong>anzlage, sondern schlichtweg am imperialen<br />

westdeutschen Hunger.<br />

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