"Fremdhäßige", Handwerker & Genossen - Johann-August-Malin ...

326
Wenn Menschen aus agrarischen Verhältnissen - wie sie im Trentino
des 19. Jahrhunderts vorherrschten - plötzlich in industrielle
versetzt werden, so wandeln sich Bauern nicht einfach in Proletarier,
auch wenn die sogenannten objektiven Bedingungen sie zu Industriearbeitern
machen. 1167 Vorindustriell geprägte Arbeitsmigranten,
das zeigen alle einschlägigen Studien, bilden gleichsam eine
'Klasse im Übergang', die ihre herkömmlichen Sozialsysteme, wie
verwandtschaftliche Solidarität, dörfliche Zusammengehörigkeit
bis hin zu Patron-Klientel-Verhältnissen, aber auch religiöse Vergemeinschaftungen
ins Einwanderungsland transferieren. Dies
funktioniert um so besser, je geschlossener die dörflich-regionalen
Beziehungsnetzwerke übertragen werden.
Laut Volkszählung von 1900 stammten von 420 italienischen
Arbeitsmigranten im Fabriksdorf Kennelbach 307, das entspricht
73 Prozent, aus dem Suganatal östlich von Trient. Allein aus dem
dortigen Dörfchen Strigno stammte mehr als ein Fünftel der Einwanderer.
1168
In der benachbarten Gemeinde Hard brachte der Fabrikant Dr.
Samuel J enny seine Angeworbenen nach Regionen zusammengefaßt
in verschiedenen Arbeitersiedlungen unter. Die einheimische
Bevölkerung trug · dem insofern Rechnung, als sie die neu· entstandenen
Viertel nach dem Herkunftsort der Italiener· bezeichnete. So
nannten alte Harder und Harderinnen die Siedlung in der Parzelle
Härdle noch vor zwei, drei Jahrzehnten nach der gleichnamigen
valsuganischen Bezirksstadt 'Im Borgo' ."69
In industrielles Milieu transplantierte Sozialsysteme, die über
verwandtschaftliche und dörfliche oder regionale Loyalitäten organisiert
sind, bringen ganz eigenständige Formen des Arbeitskampfes
hervor, die sich durch spontane, meist lokale Arrondierungen
der jeweiligen Aktionen auszeichnen: Die Arbeitsmigranten erreichen
punktuell immer wieder einen hohen Stand des Klassenkampfes
bei gleichzeitig sehr schwach entwickeltem Klassenbewußtsein.