Texte - Sauerlandmundart
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Dorfleben ► Religion und Brauchtum<br />
Gott sieht dich immer, du bist nie allein,<br />
er hält seine Hand über dich.<br />
Diese Einsicht versuchte Luise Hensel<br />
in ihrem bereits 1816 erschienenen<br />
Gedicht „Müde bin ich, geh zur Ruh’“<br />
zu vermitteln, das als Abendgebet gesprochen<br />
wurde. Darin heißt es: „Vater,<br />
lass die Augen dein über meinem Bette<br />
sein!“ Die Dichterin spricht Gott als<br />
den treusorgenden Vater an. Das Gedicht<br />
ist als Abendgebet weit verbreitet.<br />
Die hier ausgesprochene Anschauung<br />
ist aber nur zögerlich in die Volksmeinung<br />
übernommen worden. Sie wurde<br />
bis heute überlagert von dem früheren<br />
Gottesbild.<br />
Hier hat sich ein entscheidender Sinneswandel<br />
vollzogen, der Gottesbegriff<br />
in seinem Inhalt verändert. Deutlich<br />
wird dieser Meinungswandel in der<br />
Beurteilung der Geschichte, in der von<br />
dem jungen Mann erzählt wird, der sein<br />
Erbteil in der „Welt“ durchgebracht hat<br />
und schließlich von allen verlassen erscheint.<br />
Früher hieß diese Geschichte<br />
„Das Gleichnis vom verlorenen Sohn“,<br />
heute spricht man vom „Gleichnis vom<br />
barmherzigen Vater“. Diese Deutung<br />
kommt wohl auch dem von Jesus intendierten<br />
Sinngehalt näher als die frühere<br />
Meinung.<br />
Von einer verlorenen Tochter, einer<br />
„gefallenen“ Tochter, die ein Kind erwartete<br />
und den Namen vom Vater<br />
nicht nennen wollte, ist bekannt, dass<br />
ihr eigener Vater sie aus dem Hause<br />
trieb. Sie musste das Kind abgeben,<br />
damit sie einer Arbeit nachgehen konnte.<br />
– Mit Jürgen Lemke kann man feststellen:<br />
„Da spricht die Umwelt, nicht<br />
die Mutter.“<br />
100<br />
Der Herrguadd süht diëck ständig, du<br />
bist nüh alleïne, hei höllt siene Hand<br />
iübber diëck!<br />
Luise Hensel het diëse Insicht in iarrem<br />
alt 1816 gedrucketen Gedichte<br />
„Müde bin ich, geh’ zur Ruh’“ vertriaten.<br />
Dodrinne steïht dei Satz: „Vater,<br />
laß die Augen dein über meinem Bette<br />
sein!“ Dei Dichterin spriëket vam Herrguadd<br />
as van nem trügge suarrenden<br />
Vatter. Dat Gedicht woorte wiet un<br />
breït tau der Nacht gebiatt, abber et<br />
duerte lange, bit dei nigge Gedanke<br />
siëck giegen dian freuheren diurrechsetten<br />
kunn. Dei eïste Lehre wirreket<br />
bit in unse Dah noch noh.<br />
Sou wert recht dütlich, wou siëck dei<br />
Gesinnunge geändert het, wou dei ganze<br />
Gottesbegriff en niggen Inhalt<br />
gekriën het. Dütlich wert diërr Ümmeschwung<br />
in der Meinunge ouk,<br />
wann dei Geschichte vertallt un erklärt<br />
wert van diam jungen Mann, dei in der<br />
„Welt“ sien Iarrevdeïl diurrechbrachte<br />
un schließlich van allen verloten wor.<br />
Freuher sachte me, dat is de „Geschichte<br />
vam verluarenen Siunne“, nu spriëket<br />
me vam „Gleichnis vam barmherzigen<br />
Vatter“. Sou utgelacht, kiümmet<br />
me gewiß ouk eïger an dei Opfassunge<br />
van Jesus heraan ase met diarr<br />
freuheren Meinunge.<br />
Van ner verluarenen Dochter, van ner<br />
„gefallenen“ Dochter, dei en Kind erwarte,<br />
abber den Namen vam Vatter nit<br />
neumen wull, is vertallt woren, dat der<br />
eïgene Vatter sei ut me Huuse weïs. Sei<br />
muchte dat Kind affgiaben, domet se ne<br />
Arrebet opniammen kunn. – „Do spriëket<br />
de Ümmewelt, nit de Mutter“,<br />
kann me met Jürgen Lemke siën.