Franz von Sales – Band 1 - Gott ist die Liebe
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III,1<br />
107<br />
1. Kapitel<br />
Geordnetes Tugendstreben (I).<br />
Die Bienenkönigin fliegt nicht aus, ohne <strong>von</strong> ihrem kleinen Volk umgeben<br />
zu sein; so zieht <strong>die</strong> <strong>Liebe</strong> nicht in ein Herz ein, ohne in ihrem<br />
Gefolge <strong>die</strong> anderen Tugenden zu haben, denen sie Befehle erteilt, <strong>die</strong> sie<br />
den Erfordernissen entsprechend einsetzt, wie ein Hauptmann seine Soldaten,<br />
jedoch nicht alle gleichzeitig und in gleicher Weise, nicht immer<br />
und überall. Der Gerechte <strong>ist</strong> „wie ein Baum, gepflanzt an Wasserläufen,<br />
der Frucht trägt zu seiner Zeit“ (Ps 1,3); denn wenn <strong>die</strong> <strong>Liebe</strong> eine Seele<br />
durchdringt, bringt sie in ihr <strong>die</strong> Tugendwerke hervor, jedes zu seiner<br />
Zeit. 1<br />
Musik, im allgemeinen angenehm, <strong>ist</strong> unangebracht zur Zeit der Trauer,<br />
sagt das Sprichwort (Sir 22,6). In ihrem Streben, eine bestimmte Tugend<br />
zu üben, begehen manche den großen Fehler, daß sie sich darauf<br />
versteifen, bei jeder Gelegenheit Akte <strong>die</strong>ser Tugend zu setzen. Wie <strong>die</strong><br />
bekannten Philosophen des Altertums wollen sie entweder immer weinen<br />
oder immer lachen; ja sie tadeln und bekritteln auch noch jene, <strong>die</strong><br />
nicht ständig mit ihren Lieblingstugenden beschäftigt sind wie sie. Man<br />
soll sich aber nach den Worten des Apostels „freuen mit den Fröhlichen<br />
und weinen mit den Weinenden“ (Röm 12,15). „Die <strong>Liebe</strong> <strong>ist</strong> geduldig,<br />
gütig“ (1 Kor 13,4), weitherzig, klug, nachgiebig.<br />
Trotzdem gibt es Tugenden, <strong>die</strong> man fast immer nötig hat, weil sie nicht<br />
nur ihrer eigenen Werke wegen geübt werden, sondern eigentlich jede<br />
andere Tugendhandlung begleiten sollen. <strong>–</strong> Man hat nicht oft Gelegenheit,<br />
<strong>die</strong> Tugenden der Stärke, der Großmut, der Freigiebigkeit zu üben;<br />
aber <strong>die</strong> Sanftmut, das Maßhalten, <strong>die</strong> Redlichkeit, <strong>die</strong> Demut sollen<br />
allen Handlungen unseres Lebens ihr Gepräge geben. Es gibt wohl erhabenere,<br />
aber keine notwendigeren Tugenden als <strong>die</strong>se. Zucker schmeckt<br />
besser als Salz, aber Salz braucht man öfter. Deshalb sollen wir auch<br />
<strong>die</strong>se Tugenden immer in Bereitschaft haben, da wir sie praktisch immer<br />
brauchen.<br />
Unter den Tugenden müssen wir jene vorziehen, <strong>die</strong> den Pflichten unseres<br />
Berufes entsprechen, nicht jene, <strong>die</strong> uns mehr zusagen. Die hl. Paula<br />
liebte strenge Kasteiungen, um durch sie ge<strong>ist</strong>liche Tröstungen zu erlangen;<br />
zum Gehorsam gegen ihre Vorgesetzten aber war sie verpflichtet.<br />
Der hl. Hieronymus tadelte sie deshalb, daß sie gegen <strong>die</strong> Weisung ihres