Franz von Sales – Band 1 - Gott ist die Liebe
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III,36<br />
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auf unseren Rang bedacht, wollen aber, daß <strong>die</strong> anderen demütig und<br />
herablassend seien. Wir klagen gleich über den Nächsten, wollen aber<br />
nicht, daß man sich über uns beklage. Was wir für andere tun, scheint uns<br />
immer zu viel, was andere für uns tun, zählt in unseren Augen nicht. Mit<br />
einem Wort, wir gleichen den Wachteln <strong>von</strong> Paphlagonien, <strong>die</strong> zwei Herzen<br />
haben: wir haben ein mildes, nachsichtiges und höfliches Herz für uns,<br />
gegen <strong>die</strong> anderen aber ein hartes, strenges und unerbittliches.<br />
Wir haben zweierlei Gewicht: eines, um unsere eigenen Interessen<br />
möglichst vorteilhaft, und ein zweites, um jene des Nächsten möglichst<br />
unvorteilhaft zu bestimmen. „Trügerische Lippen reden mit Herz und<br />
Herz“, sagt <strong>die</strong> Heilige Schrift (Ps 12,3); d. h. sie haben zwei Herzen.<br />
Zweierlei Gewicht haben, ein schweres beim Kaufen, ein leichtes beim<br />
Verkaufen, <strong>ist</strong> vor <strong>Gott</strong> ein Greuel (vgl. Dtn 25,13; Spr 20,10).<br />
Sei also gleichmäßig gerecht in all deinem Tun. Versetze dich immer in<br />
<strong>die</strong> Lage deines Mitmenschen und ihn an deine Stelle, dann wirst du<br />
richtig urteilen. Wenn du kaufst, stelle dir vor, du se<strong>ist</strong> der Verkäufer,<br />
wenn du verkaufst, du se<strong>ist</strong> der Käufer, dann wirst du immer gerecht<br />
kaufen und verkaufen. Ungerechtigkeiten <strong>die</strong>ser Art sind klein, sie verpflichten<br />
uns nicht zur Rückgabe, denn wir bestehen ja nur auf strenger<br />
Gerechtigkeit, soweit es für uns günstig <strong>ist</strong>. Wir sind aber doch verpflichtet,<br />
uns zu bessern, denn das sind große Fehler gegen <strong>die</strong> Vernunft und<br />
<strong>die</strong> <strong>Liebe</strong>. Schließlich täuscht man sich dabei selbst, denn man verliert<br />
nichts, wenn man hochherzig, freundlich und zuvorkommend <strong>ist</strong>.<br />
Prüfe darum oft dein Herz, ob es gegen den Nächsten so gesinnt <strong>ist</strong>, wie<br />
du es <strong>von</strong> ihm erwartest, wenn du an seiner Stelle wärest, dann handelst<br />
du gewiß vernünftig. Trajan wurde einmal <strong>von</strong> seinen Vertrauten getadelt,<br />
daß er als Kaiser nach ihrer Meinung mit jedermann zu vertraulich<br />
sei. „Soll ich nicht als Kaiser gegen meine Untergebenen so sein“, antwortete<br />
er, „wie ich ihn mir wünschte, wenn ich selbst Untergebener<br />
wäre?“