Franz von Sales – Band 1 - Gott ist die Liebe
Franz von Sales – Band 1 - Gott ist die Liebe
Franz von Sales – Band 1 - Gott ist die Liebe
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
178<br />
III,28<br />
entschuldigen können, so wollen wir doch Mitleid haben und sie der<br />
noch am ehesten erträglichen Ursache zuschreiben, wie der Unwissenheit<br />
oder Schwäche.<br />
Darf man also niemals über den Nächsten urteilen? Nein, gewiß nicht.<br />
<strong>Gott</strong> urteilt über <strong>die</strong> Verbrecher im Gericht. Er be<strong>die</strong>nt sich wohl der<br />
Stimme staatlicher Beamter, um sich unseren Ohren vernehmbar zu machen.<br />
Sie sind seine Dolmetscher und dürfen nichts aussprechen, was sie<br />
nicht <strong>von</strong> ihm wissen, da sie nur seine Sprecher sind. Handeln sie anders,<br />
folgen sie ihren Leidenschaften, dann richten sie selbst und werden demnach<br />
auch gerichtet werden, denn es steht keinem Menschen zu, als Mensch<br />
andere zu richten.<br />
Etwas sehen und wissen, heißt noch nicht urteilen. Das Richten setzt<br />
nach der Heiligen Schrift eine große oder kleine, wirkliche oder scheinbare<br />
Schwierigkeit voraus, <strong>die</strong> überwunden werden muß. Deshalb sagt<br />
auch <strong>die</strong> Heilige Schrift, daß <strong>die</strong> Ungläubigen schon gerichtet sind (Joh<br />
3,18), weil es über ihre Verdammnis keinen Zweifel geben kann. Es <strong>ist</strong><br />
deshalb noch kein Unrecht, wenn man über Mitmenschen Zweifel hegt;<br />
denn nicht der Zweifel <strong>ist</strong> verboten, sondern das Richten. Allerdings darf<br />
man nur zweifeln und argwöhnen, soweit Gründe und Beweise uns dazu<br />
zwingen, sonst wären auch Zweifel und Argwohn freventlich. Wenn irgendein<br />
übelwollender Mensch Jakob gesehen hätte, als er Rahel am<br />
Jakobsbrunnen küßte (Gen 29,11), oder Rebekka, als sie <strong>von</strong> dem in<br />
ihrer Gegend ganz unbekannten Elieser <strong>die</strong> Armspangen und Ohrgehänge<br />
annahm (ebd. 24,22), so hätte er gewiß <strong>von</strong> <strong>die</strong>sen zwei vorbildlich<br />
reinen Menschen zu Unrecht schlecht gedacht. Denn wenn eine Handlung<br />
an sich weder gut noch schlecht <strong>ist</strong>, dann <strong>ist</strong> es ein freventlicher<br />
Argwohn, daraus schlechte Folgerungen zu ziehen, außer es gäben verschiedene<br />
Umstände den Gründen Gewicht. Ein freventliches Urteil <strong>ist</strong><br />
es auch, aus einer Handlung weitgehende Folgerungen zu ziehen, und<br />
jemand ihretwegen schlechte Eigenschaften zuzuschreiben. Darüber muß<br />
ich mich noch deutlicher ausdrücken.<br />
Wer um das eigene Gewissen wirklich Sorge trägt, wird schwerlich in<br />
den Fehler eines freventlichen Urteils verfallen. Wenn <strong>die</strong> Bienen sehen,<br />
daß es neblig <strong>ist</strong>, ziehen sie sich in den Stock zurück und beschäftigen<br />
sich mit dem Honig. So befassen sich auch <strong>die</strong> Gedanken guter Menschen<br />
nicht mit unklaren und nebelhaften Handlungen ihrer Mitmenschen,<br />
sondern ziehen sich in das eigene Herz zurück, um sich dort mit<br />
guten Vorsätzen für den eigenen Fortschritt zu beschäftigen. Nur müßige