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temeswarer beiträge zur germanistik - Facultatea de Litere, Istorie şi ...

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Claudines Reise unterbricht <strong>de</strong>n Alltag und eröffnet ihr neue Lebensmöglichkeiten.<br />

Die Welt, die sie aus <strong>de</strong>m Zug erblickt, verän<strong>de</strong>rt die starre Realität. Durch ein<br />

doppeltes Sehen durchdringt sie die Verbindung einer Realität zu einer an<strong>de</strong>ren,<br />

bestehend aus Tausen<strong>de</strong>n von Möglichkeiten. Diese I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Möglichkeit gibt ihr<br />

die Fähigkeit, sich eine an<strong>de</strong>re Gefühlsbewegung vorzustellen. Der Akt <strong>de</strong>r<br />

Untreue, <strong>de</strong>m sie in einer gewissen Gleichgültigkeit begegnet – sie bezeichnet sich<br />

sogar als „dumme Gans“ – vermittelt ihr trotz allem einen sexuellen Genuß. Aber<br />

im gleichen Moment, als ob sich ihr Geist von ihrem Körper entfernen wür<strong>de</strong>, sieht<br />

sie sehr weit in <strong>de</strong>r Ferne die Vorstellung ihrer Liebe. Zu ihrem Gefühl am Anfang<br />

<strong>de</strong>r Novelle, wo sie meinte, ohne <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren nicht leben zu können, gehört nun<br />

die Tatsache, daß Untreue möglich ist, und daß diese Handlung nicht unbedingt<br />

die Zerstörung <strong>de</strong>r Liebe be<strong>de</strong>utet, son<strong>de</strong>rn im Gegenteil ihre letzte Steigerung.<br />

Sie sei eine komplexere Realität als die reine und einfache Realität. Und wenn das<br />

Bild Gottes zum Schluß evoziert wird, geschieht dies wohl, um zu unterstreichen,<br />

daß das Akzeptieren <strong>de</strong>r Untreue als letzte Steigerung <strong>de</strong>r Liebe wohl im Bereich<br />

<strong>de</strong>r Gedanken sich ansie<strong>de</strong>le, wie Gott, <strong>de</strong>n man wissenschaftlich nicht erklären<br />

könne. Veronika ist auf <strong>de</strong>r Suche nach <strong>de</strong>m absoluten Gefühl und wird mit<br />

Johannes eine mystische Vereinigung erleben bei <strong>de</strong>m Gedanken, er hätte sich<br />

eben getötet. Ihr Gefühl wird durch das Ablehnen je<strong>de</strong>r körperlichen Berührung<br />

sowie je<strong>de</strong>r Ausgerichtetheit auf ein Ziel gekennzeichnet. Veronika, in ihrem<br />

Zimmer eingesperrt, sucht nach einer tieferen I<strong>de</strong>ntität:<br />

Und es kam die Nacht, diese eine Nacht ihres Lebens, wo das, was sich unter <strong>de</strong>r<br />

Dämmer<strong>de</strong>cke ihres langen Krankendaseins gebil<strong>de</strong>t hatte und durch eine<br />

Hemmung von <strong>de</strong>r Wirklichkeit abgehalten, wie ein fressen<strong>de</strong>r Fleck zu seltsamen<br />

Figuren unvorstellbarer Erlebnisse auswuchs, die Kraft hatte, sich endlich bewußt<br />

in ihr emporzuheben. 21<br />

Veronika und Claudine verharren in ihrer Entfremdung <strong>zur</strong> Welt, obwohl sie ein<br />

gewisses erotisches Empfin<strong>de</strong>n zum an<strong>de</strong>ren hinzieht, zu <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren:<br />

Um ihn [Veronikas Körper] stan<strong>de</strong>n Männer mit rascheln<strong>de</strong>n und leis wie von<br />

Haaren knistern<strong>de</strong>n Flügeln. 22<br />

Claudine evoziert ähnliche Bil<strong>de</strong>r, und bei<strong>de</strong> bleiben hinter einer Tür, auf <strong>de</strong>r Lauer<br />

nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren, <strong>de</strong>m Mann, und bei<strong>de</strong> fühlen, wie die Lust in ihnen aufsteigt.<br />

Diese Mischung aus Eros und Weltentsagung lösen einen Abstieg in das tiefste<br />

Innere <strong>de</strong>s Ich aus. Musil versucht die Verdoppelung eines Wesens zu verstehen<br />

und in Sprache auszudrücken. Diese sensitive, von ihm gesehene Annäherung an<br />

die Welt kann nur in <strong>de</strong>r Literatur ein Echo fin<strong>de</strong>n. Denn nur die Literatur kann<br />

Probleme lösen, zu <strong>de</strong>nen die Wissenschaft keinen Zugang hat. Die Literatur<br />

eröffnet Wege zu einer besseren Bewältigung <strong>de</strong>r wechselseitigen Beziehung<br />

zwischen geistiger Fähigekit und <strong>de</strong>m Pulsieren <strong>de</strong>r Gefühle.<br />

21 Musil, Robert: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 158.<br />

22 Musil, Robert: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 171.<br />

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