21.12.2023 Aufrufe

Ausgabe 209

Das unparteiische, unabhängige Magazin für ÖsterreicherInnen in aller Welt mit dem Schwerpunkt „Österreich, Europa und die Welt“ erscheint vier Mal im Jahr.

Das unparteiische, unabhängige Magazin für ÖsterreicherInnen in aller Welt mit dem Schwerpunkt „Österreich, Europa und die Welt“ erscheint vier Mal im Jahr.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

ÖSTERREICH JOURNAL NR. <strong>209</strong> / 21. 12. 2023<br />

158<br />

In drei Tagen das gesamte<br />

Erbgut vor Augen<br />

Die »dritte Generation« der medizinischen Genomsequenzierung<br />

beginnt an der Medizinischen Universität Innsbruck<br />

Anfang September 2023 wird der Fall<br />

eines siebenjährigen Buben aus Südtirol<br />

an das Institut für Humangenetik der<br />

Medizinischen Universität Innsbruck herangetragen.<br />

Das Kind ist in seiner intellektuellen<br />

sowie psychomotorischen Entwicklung<br />

deutlich verzögert. Die ÄrztInnen und DiagnostikerInnen<br />

unter der Leitung von Institutsdirektor<br />

Johannes Zschocke führen eine<br />

so genannte Trio-Exomanalyse mit der herkömmlichen<br />

„Next Generation“ Sequenzierung<br />

durch. Dabei werden alle proteinkodierenden<br />

Genabschnitte des Kindes mit jenen<br />

der Eltern verglichen. „Unsere Analyse zeigte<br />

im Bereich des selten als Krankheitsursache<br />

beschriebenen AP1S2-Gens eine fragliche<br />

Auffälligkeit, die aber aufgrund der Li -<br />

mitierung der bisherigen Analyseverfahren<br />

nicht interpretiert werden konnte“, sagt<br />

Zschocke. Seit diesem Sommer hat das Institut<br />

für Humangenetik jedoch ein neues, re–<br />

volutionäres Gerät zur Verfügung, wenn die<br />

bisherigen Methoden nicht weiterhelfen: Ös -<br />

terreichs ersten und bis dato einzigen diagnostisch<br />

verwendbaren Sequenzierer der<br />

„dritten Generation“.<br />

Das neue Gerät mit dem Handelsnamen<br />

„Revio“ liest erstmals verläßlich das ganze<br />

Genom für die medizinische Forschung und<br />

Diagnostik, sozusagen vom Anfang bis zum<br />

Ende aller Chromosomen. Dabei werden auch<br />

sehr lange und komplexe Segmente des Erbguts<br />

zuverlässig erfaßt. Bei der Untersuchung<br />

der Erbinformation des jungen Patienten<br />

mit der neuen Methodik entdeckten die<br />

MedizingenetikerInnen, daß es sich bei der<br />

Auffälligkeit um eine Inversion handelt, also<br />

die Verdrehung eines großen Chromosomenabschnitts<br />

ohne Verlust von Sequenzen.<br />

„Man muß sich das so vorstellen als ob in<br />

einem Buch zahlreiche Seiten herausgefallen<br />

und falsch herum wieder eingeklebt wurden“,<br />

er klärt Zschocke. „So eine Veränderung<br />

kann ein Gen völlig zerstören, läßt sich<br />

*)<br />

Referenzgenom: Das Referenzgenom repräsentiert<br />

eine prototypische Abfolge des Erbguts eines Menschen.<br />

An diesem Modell werden andere Genome<br />

verglichen, um Unterschiede, Varianten und<br />

Erkrankungen abzuklären.<br />

Foto: MUI/C. Simon<br />

Das Long-Read-Sequenziergerät „Revio“ wird mit vorbereiteten Laborproben beladen.<br />

aber oft nur schwer nachweisen.“ Eine solche<br />

Ursache der ohnehin sehr seltenen<br />

AP1S2-abhängigen geistigen Behinderung<br />

wurde weltweit noch nie beschrieben. Der<br />

Fall des Buben konnte damit gelöst, eine<br />

Diagnose gestellt werden. Da die strukturelle<br />

Variante bei ihm neu entstanden ist, haben<br />

die Eltern Gewißheit, daß sie bei weiteren<br />

Kindern diese Variante nicht vererben würden.<br />

Über Nacht das gesamte Genom<br />

„Revio“ wurde von dem US-Unternehmen<br />

PacBio entwickelt und kam erst zu Jahresbeginn<br />

auf den Markt. Mit allen Zusatzinstallationen<br />

hat er knapp eine Million Euro<br />

gekostet. „Das Erbgut hat ungefähr 3,1 Milliarden<br />

Nukleotide, die genetischen Buchstaben.<br />

Bei der seit einigen Jahren üblichen<br />

Standardmethode, dem ‚Next Generation<br />

Sequencing‘, liest man kleine Schnipsel von<br />

75 bis 150 Nukleotiden und ordnet die er -<br />

kannten Abschnitte dann den Stellen zu, an<br />

denen man sie gemäß der Referenzsequenz *)<br />

des Genoms vermutet“, sagt Zschocke. Mit<br />

dem neuen long-read Verfahren, das auch als<br />

„Third Generation Sequencing“ bezeichnet<br />

wird, ist es erstmals möglich, das wirklich<br />

ganze Genom an einem Stück lesen. Wenn<br />

es sehr dringend ist, geht das auch innerhalb<br />

von wenigen Tagen nach Eintreffen der Pro -<br />

»Österreich Journal« – https://kiosk.oesterreichjournal.at<br />

be. „Die eigentliche Sequenzierung dauert<br />

nur etwa 30 Stunden – es gibt quasi über<br />

Nacht ein vollständiges Bild von Sequenz,<br />

Struktur und Epigenetik des gesamten Erbguts<br />

eines Menschen“, schildert Zschocke.<br />

Die neue Technologie soll auch für die um -<br />

fangreichen molekularonkologischen Leistungen<br />

des Instituts verwendet werden.<br />

Internationales Konsortium für medizinisches<br />

»Third Generation Sequencing«<br />

Es gibt bislang nur wenige Institute weltweit,<br />

die das neue Gerät in die medizinische<br />

Versorgung einführen. Mit der Anschaffung<br />

des Sequenzierers wurde das Institut für Hu -<br />

mangenetik der Medizinischen Universität<br />

Innsbruck Teil des globalen Konsortiums<br />

„HiFi Solves“. Zentren in weltweit zehn<br />

Ländern arbeiten gemeinsam an Projekten,<br />

um das Gerät in der genetischen Diagnostik<br />

einzusetzen. „Es geht darum, Fragen zu be -<br />

antworten, die wir bisher nicht beantworten<br />

konnten, Daten auszutauschen, neue Verfahren<br />

zu etablieren und gemeinsam die Möglichkeiten<br />

des Geräts auszuloten“, er klärt<br />

Zschocke. Denn auch wenn „Revio“ viele<br />

neue Lösungswege eröffnet, die Herausforderung,<br />

die enormen Datensätze auszuwerten<br />

und für jede Patientin und jeden Patienten<br />

zu interpretieren, bleibt bestehen. n<br />

https://www.i-med.ac.at/

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!