Kritik mit Methode? - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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Meines Erachtens konnten <strong>mit</strong> Anwendung der ethnopsychoanalytischen Deutungswerkstatt<br />
(ohne Kenntnis der biographischen Umstände der Familie) viele<br />
Aspekte der realen Lebensbedingungen der Familie Seyan bestätigt und gesellschaftlich<br />
wirksame Faktoren aufgedeckt werden. Ich möchte an dieser Stelle<br />
exemplarisch einige Interpretationen vorstellen:<br />
Mit Hilfe der Assoziationsketten entwickelte sich langsam ein Bild der Familien<strong>mit</strong>glieder<br />
und der Situation im Gesamten. Abhängigkeiten und Belastungen, die<br />
sich aus den Lebensumständen der Familie ergeben, wurden benannt und an die<br />
gesellschaftlichen Verhältnisse gekoppelt. Die Äußerung der Gefühle, die das<br />
Transkript bei den TeilnehmerInnen auslöste, brachte hervor, dass Familie Seyan<br />
sich in einer kaum auszuhaltenden Lage befindet. Eine Teilnehmerin verdeutlichte<br />
zum Ende des Deutungsgesprächs, wie schwer es ihr gefallen ist, sich unter diesen<br />
Umständen auch noch auf das zentrale Thema der Forschungsarbeit zu besinnen.<br />
In dem von ihr beschriebenen Gefühl der Überforderung spiegelt sich, übertragen<br />
auf die Familie Seyan, beispielsweise der Konflikt von Herrn Seyan: wie<br />
sollte er sich bei all diesen psychischen, ökonomischen, juristischen, sozialen,<br />
kulturellen und politischen Belastungen denn auf das »Wesentliche« (Genesung,<br />
Sozialkontakte, Arbeit, Deutschkurs etc.) konzentrieren können?<br />
Über die Assoziationen zur Rolle der Interviewerin wurde nicht nur ihre gesellschaftliche<br />
Integration herausgearbeitet und da<strong>mit</strong> Hinweise auf das ›Eigene‹ und<br />
das ›Fremde‹ gegeben, auch Aspekte der Beziehungsdynamik zwischen der Forscherin<br />
und den GesprächspartnerInnen kamen zum Ausdruck. Die Ansprache als<br />
Therapeutin und Schlichterin, als Trösterin und auch als Zeugin der Lebenssituation<br />
der Familie Seyan, verdeutlicht einerseits Hoffnungen und Erwartungen, die<br />
die Familie an die Interviewerin unbewusst richtet. Andererseits gibt sie auch<br />
Hinweise auf Ungleichheiten und Abhängigkeiten, die nicht nur im subjektiven<br />
Zusammentreffen, sondern auch hinsichtlich gesellschaftlicher Positions- und<br />
Machtfelder von Bedeutung sein können. Auf diese Aspekte aufmerksam geworden,<br />
muss sich die Forscherin bei ihrer Auswertungsarbeit immer wieder selbst reflektieren<br />
und bei ihrer Ergebnispräsentation einbeziehen, dass Ängste und Druck,<br />
die im Beziehungsgefüge des Interviews entstehen, die Darstellung des EPZ beeinflusst<br />
haben könnten. In diesem Sinne kann Frau Seyans beschwichtigende<br />
und lobende Rede über das EPZ auch als Vorsichtmaßnahme gedeutet werden.<br />
Ähnlich wie die Rolle der Interviewerin im Prozess der Deutungsarbeit herausgearbeitet<br />
werden konnte, zeigt sich in der Art und Weise, wie die Deutungsgruppe<br />
<strong>mit</strong> dem Material verfahren ist, auch der Status der TeilnehmerInnen. Die<br />
Befindlichkeiten der TeilnehmerInnen erfahren im Verlauf des Gruppenprozesses<br />
einen Wandel. Während sie anfangs amüsiert bis genervt auf die Schilderungen<br />
der InterviewpartnerInnen und deren Interaktion reagieren, weicht ihre distanzierte,<br />
abwehrende Haltung zunehmend einer <strong>mit</strong>leidsvollen Anteilnahme.<br />
Schuldgefühle (»denen geht es so beschissen« in Abgrenzung zu: uns geht es eigentlich<br />
gut) genauso wie Gefühle der Ohnmacht und Hilflosigkeit münden in<br />
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