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Kritik mit Methode? - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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kung bedeutet, wiederum neue, zuvor noch nicht erreichbare Möglichkeiten. Man<br />

kann, nachdem sich für das Schreiben entschieden wurde, nun irgendein Wort beispielsweise<br />

aus der deutschen Sprache benutzen, um den Text zu beginnen. Zum<br />

Beispiel: »Ich«. Dieses Wort ist zunächst recht offen in seiner Bedeutung. Nach<br />

dieser Wahl/Einschränkung ergeben sich wiederum weitere, spezifischere Möglichkeiten<br />

des Anschlusses. Zum Beispiel könnte der Satz gebildet werden: »Ich<br />

wollte Dir schon seit längerem sagen, dass…« In diesem Fall fände eine direkte<br />

Adressierung eines ›Ichs‹ an ein ›Du‹ statt. Auf diese Weise würde dann eine Beziehung<br />

zwischen einem ›Ich‹ und einem ›Du‹ hergestellt, wobei das ›Ich‹ dem<br />

›Du‹ seine Mitteilungsabsicht offenbart. Es könnte da<strong>mit</strong> vielleicht versucht werden<br />

Vertrautheit herzustellen. Möglicherweise handelt es sich um einen Brief.<br />

Vielleicht ist es aber auch der Anfang eines Romans oder eine Kurzgeschichte…<br />

Der Satz könnte aber auch heißen: »Ich, du, er, sie, es stellen Personalpronomina<br />

der deutschen Sprache dar und stehen im Nominativ Singular.« In diesem Fall<br />

würde das ›Ich‹ nicht zu einem sich anvertrauenden Gegenüber eines ›Du‹ werden,<br />

sondern zu einem leeren sprachlich-grammatikalischen Zeichen, dass in wissenschaftlicher<br />

bzw. didaktischer Absicht (beispielsweise für ein Deutsch-Lehrbuch)<br />

hinsichtlich seiner Sprachfunktion reflektiert wird. Um welche Art von Text<br />

es sich aber genau handelt und welche Bedeutung die einzelnen Wörter etc. erhalten,<br />

kann erst durch die Kenntnis weiterer Sequenzstellen sicher gesagt werden.<br />

Oder aus der Perspektive des Schreibenden formuliert: Welchen Text man tatsächlich<br />

produziert, entscheidet sich noch nicht <strong>mit</strong> der Anfangssequenz und auch<br />

nicht <strong>mit</strong> dem Konzept, welches man im Kopf hat. Auch wenn die Wahl einer Anfangssequenz<br />

schon Möglichkeiten einschränkt, ergibt sich erst sukzessive, <strong>mit</strong><br />

der Realisierung immer neuer (Bedeutungs-)Möglichkeiten, die spezifische Textstruktur.<br />

Mit dem Beispiel soll verdeutlicht werden, dass es notwendigerweise an jeder<br />

Sequenzstelle eines Textes zu einer Selektion bzw. Auswahl aus einem Raum von<br />

Möglichkeiten kommt. Stück für Stück werden Textelemente ›aneinandergereiht‹,<br />

wobei das ›Aneinanderreihen‹ von Sequenzstellen nicht in einem oberflächlichen<br />

Sinne zu verstehen ist. Denn die Position und Kombination jeder einzelnen Sequenz<br />

<strong>mit</strong> anderen Sequenzen im Text bestimmt ihren spezifischen semantischen<br />

Gehalt und eröffnet neue je spezifische Möglichkeiten des Anschlusses: »Dabei<br />

wird unter Sequentialität nicht ein triviales zeitliches oder räumliches Nacheinander<br />

bzw. Hintereinander verstanden, sondern die <strong>mit</strong> jeder Einzelhandlung als Sequenzstelle<br />

sich von neuem vollziehende, durch Erzeugungsregeln generierte<br />

Schließung vorausgehend eröffneter Möglichkeiten und Öffnung neuer Optionen<br />

in eine offene Zukunft« (Oevermann 2002: 7).<br />

Dies gilt allein schon in dem formalen Sinn, dass (wahrscheinlich) alle Wörter<br />

eine gewisse Flexibilität und Bedeutungsoffenheit besitzen und erst in Kombination<br />

<strong>mit</strong> anderen Wörtern ihre je fall- und situationsspezifische Bedeutung festgelegt<br />

wird (wenn man einfach nur »laufen« sagt, weiß man noch nicht wer, aus<br />

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