Kritik mit Methode? - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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Die Metapher der Übersetzung stellt eine treffende Beschreibung der spezifischen<br />
Bedingungen des archäologischen Erkenntnisgewinns dar. Bei einer<br />
sprachlichen Übersetzung, bei der nicht immer das Wort <strong>mit</strong> der exakt gleichen<br />
Bedeutung gefunden werden kann, entsteht eine mehr oder weniger nuancierte<br />
Abweichung. Analog dazu werden im Akt der Materialisierung der archäologischen<br />
Daten manche Informationen sichtbar, andere hingegen nicht. Jede <strong>Methode</strong><br />
der archäologischen Datengewinnung ermöglicht eine andere Übersetzung<br />
und greift da<strong>mit</strong> auch in Form und Inhalt jeder Dokumentation ein. Welche Informationen<br />
sichtbar gemacht werden und welche nicht, hängt aber nicht nur von<br />
den <strong>Methode</strong>n ab, sondern wird auch von theoretischen Deutungsmustern, Konzepten<br />
und Annahmen gesteuert.<br />
Ein Beispiel für die Unsichtbarmachung von Informationen im Prozess der<br />
Übersetzung ist die Interpretation archäologischer Daten zur Existenz ethnischer<br />
Gruppen in der Vergangenheit. Trotz zahlreicher <strong>Kritik</strong> im Fach an der Möglichkeit,<br />
etwas über ethnische Gruppen herauszufinden, sind manche Archäologen bis<br />
heute der Ansicht, dass gleichartige kulturelle Ausdrucksformen auf eine einheitliche<br />
soziale Gruppierung hinweisen und dass diese als ›kulturelle Gemeinschaft‹<br />
wie beispielsweise Ethnos oder Nation bezeichnet werden können (vgl. z. B. Beran<br />
2000). Ähnlichkeiten der materiellen Hinterlassenschaften (z. B. gleiche Grabbeigaben,<br />
Siedlungsformen oder Keramikdekorationen) in einem bestimmten Raum<br />
werden als Beweise einer gemeinsamen Identifikation, d. h. einem Zusammengehörigkeitsgefühl<br />
der Hersteller und Benutzer der Funde übersetzt. Den Artefakten<br />
wird eine ›ethnische Identität‹ zugeschrieben, wodurch historische ›Ethnien‹,<br />
›Völker‹ oder ›Stämme‹ rekonstruiert werden können und da<strong>mit</strong> die Geschichte<br />
einer heutigen Ethnizitätskonstruktion verlängert wird, indem eine Kontinuität<br />
hergestellt wird. Explizite Anwendung fand dieses Konzept durch die Nationalsozialisten,<br />
die <strong>mit</strong> Hilfe von archäologischen Funden ihre Expansionspolitik legitimierten,<br />
indem sie Scherben- oder Grabfunde in Osteuropa zu ›germanischen<br />
Funden‹ und da<strong>mit</strong> die Gebiete zu ›germanischen‹ Siedlungsgebieten erklärten, so<br />
dass ihre Eroberungsbestrebungen als vermeintliche Rückholung ›angestammter‹<br />
Gebiete erklärt werden konnte. Auch heute noch wird archäologisches Wissen für<br />
eine Konstruktion von Identifikationen verwendet, beispielsweise von kroatischen<br />
Politikern bei der Beanspruchung von ›kroatischen‹ Territorium in den Kriegen<br />
der 1990er, aber auch in Form von regionalen Identifikationsangeboten. So wurde<br />
der Insasse eines reich ausgestatteten Grabes aus dem 1. Jahrtausend v. Chr. auf<br />
dem Glauberg in Hessen, das Mitte der 1990er Jahre freigelegt wurde, von Archäologen<br />
als Angehöriger der eigentlich rein sprachlich definierten Gruppierung<br />
der Kelten identifiziert, wodurch Lokalpolitiker eine ›keltische‹ Vergangenheit<br />
der Region konstruieren konnten. Solche Argumente haben jedoch keine plausible<br />
Grundlage, denn die Gleichartigkeit eines Ensembles von Artefakten sagt noch<br />
nichts darüber aus, ob es ein Zusammengehörigkeitsgefühl der damaligen Hersteller<br />
und Benutzer gab, da Ähnlichkeiten der Artefaktgestaltung nicht automa-<br />
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