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Kritik mit Methode? - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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des Wahnsinns und die Praktiken des Umgangs <strong>mit</strong> Armen, Arbeitslosen, Kriminellen,<br />

religiösen Fanatikern und all den am Rande der Normalität Irrenden konstituiert<br />

Erfahrungsräume. Diese Erfahrungsräume geben den Rahmen, in dem<br />

sich die menschlichen Existenzen entwerfen und subjektivieren müssen, vor. Der<br />

zentrale Begriff, <strong>mit</strong> dem Foucault denkend forscht, ist also die »Erfahrung«.<br />

Keine (innermenschliche) transzendentale, aber auch keine dem Menschen äußerliche<br />

Substanz, wie die der Sprache, umgrenzt einen überzeitlichen Erfahrungsraum.<br />

Erfahrungen sind historische Ereignisse und da<strong>mit</strong> sind auch die Subjekte<br />

der Erfahrung historisch geformte, eigenartige Gestalten.<br />

In der Einleitung von Wahnsinn und Gesellschaft beteuert Foucault, er wolle<br />

sich nicht von vordefinierten Kategorien der Psychopathologie oder anderer wissenschaftlicher<br />

Disziplinen leiten lassen. Soll die Trennungslinie zwischen Wahnsinn<br />

und Vernunft ergründet werden, dann darf sich der historische Sinn nicht von<br />

den Gegenstandsbestimmungen und Vordefinitionen durch andere Wissensfelder,<br />

wie der Anthropologie oder der Psychologie, leiten lassen.<br />

»Die Geschichte des Wahnsinns zu schreiben, wird also heißen: eine Strukturuntersuchung<br />

der historischen Gesamtheit – Vorstellungen, Institutionen, juristische<br />

und polizeiliche Maßnahmen, wissenschaftliche Begriffe – zu leisten, die einen<br />

Wahnsinn gefangenhält, dessen ungebändigter Zustand in sich selbst nie wiederhergestellt<br />

werden kann. Da uns jene unzugängliche, ursprüngliche Reinheit fehlt,<br />

muß die Strukturuntersuchung zu jener Entscheidung zurückgreifen, die Vernunft<br />

und Wahnsinn gleichzeitig trennt und verbindet. [...] So wird die blitzartige Entscheidung<br />

wiedererscheinen können, die innerhalb der geschichtlichen Zeit heterogen,<br />

aber außerhalb dieser ungreifbar ist, die jenes Gemurmel dunkler Insekten<br />

von der Sprache der Vernunft und den Versprechungen der Zeit trennt.« (Foucault<br />

1973: 13)<br />

Foucault spricht in dieser frühen Schrift (franz. Orig. 1961) von Strukturgeschichte,<br />

wendet sich aber schon gegen einen ahistorischen Strukturalismus und<br />

ist einem textualistischen Kulturverständnis, das alles in Text oder Sprache auflösen<br />

will, fern. Die begriffliche Unterscheidung von Vorstellungen und wissenschaftlichen<br />

Begriffen einerseits, sowie sozialpraktischen Maßnahmen und<br />

institutionellen Arrangements andererseits, verweist bereits auf die spätere Differenzierung<br />

zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken. Wenn auch<br />

nicht methodisch ausformuliert, handelt es sich bei Wahnsinn und Gesellschaft<br />

bereits um eine sozialwissenschaftliche Machtanalyse.<br />

Was Foucault durch diese »Ethnologie der Kultur« (Foucault 1974: 13) geleistet<br />

hat, ist eine Verfremdung des Blicks auf die eigene Kultur und ihre<br />

Selbstverständlichkeiten. Der Zweifel an dem eigenen (kulturellen) Vorwissen<br />

unterscheidet die archäologische Haltung von der Haltung der philosophischen<br />

Hermeneutik.<br />

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