Kritik mit Methode? - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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an jeweils entwickelte Perspektiven und Weltbeziehungen sind, »und es wird konzeptuell<br />
faßbar, daß sich <strong>mit</strong> der Umwertung meiner Vergangenheit – im Rahmen<br />
des mir Möglichen – Zukunftsperspektiven eröffnen können, von denen ich – und<br />
alle PsychologInnen – bisher keine Ahnung hatten« (ebd.: 95). So wird gleichzeitig<br />
die Annahme einer frühkindlich weitestgehend determinierten Persönlichkeit<br />
ad absurdum geführt. Dem entspricht eine Auswertung empirischer Studien, in<br />
der konstatiert wird, dass erstens »die Persönlichkeit des Erwachsenen nicht<br />
während der frühen Kindheit geformt wird, und zweitens, daß es nicht die elterlichen<br />
Praktiken sind, die den Charakter des Kindes am stärksten prägen […], daß<br />
Persönlichkeit – egal wie sie definiert wird – einfach nicht auf der Basis der<br />
frühen Kindheit bis zum Erwachsensein vorhersagbar ist, und daß auch in direkt<br />
aufeinanderfolgenden Entwicklungsstadien beträchtliche Veränderungen stattfinden«<br />
(Riesmann 1993, zitiert in Holzkamp 1997a: 157).<br />
Der Ödipuskomplex erfreut sich in den verschiedensten Theorien nach wie vor<br />
großer Beliebtheit, obwohl <strong>mit</strong>tlerweile der Aufweis der Unhaltbarkeit der Annahme<br />
von phylogenetisch weitergegebenen Erinnerungen in den Naturwissenschaften<br />
als gegeben betrachtet werden kann 8 . Da<strong>mit</strong> steht und fällt eigentlich bereits<br />
das gesamte Freudsche Konstrukt des Ödipuskomplexes (wie er selbst sagt,<br />
s. o.), außer man nimmt die Ödipus-Konstellation als reelle, individuell gegebene<br />
an. Ute Osterkamp gelingt es, sie kritisch-psychologisch zu reinterpretieren, und<br />
zwar als durch konkrete gesellschaftliche Verhältnisse bedingt: Die frühkindliche<br />
Sexualität 9 , die sich zumeist auf die Eltern als erste Bezugspersonen richtet 10 , stößt<br />
auf Abwehr bei den Eltern aufgrund gesellschaftlicher Konventionen, was bedeutet,<br />
dass keine Inzestneigung existiert, die erst gehemmt werden muss (Osterkamp<br />
1976: 312 ff.). Die Psychoanalytikerin Christa Rohde-Dachser weist, ebenfalls<br />
auf konkreter gesellschaftstheoretischer Ebene, auf den möglichen Charakter der<br />
Ödipuskonstellation als Sozialisationstheorie hin. Die grundlegende Geschlechterasymmetrie,<br />
durch die der Komplex bestimmt ist, beschreibt dann »den je unterschiedlichen<br />
Weg der beiden Geschlechter hinein in die patriarchalische Kultur«<br />
(Rohde-Dachser 1991: 3). Jedoch bleibt der Komplex eine biologisch festgelegte<br />
Konstante, wird gar zum Dogma, wo<strong>mit</strong> er indirekt das patriarchale Geschlechterverhältnis<br />
legitimiert und normalisiert, statt es ideologiekritisch aufzuzeigen und<br />
so<strong>mit</strong> Alternativen denkbar zu machen (ebd: 2 ff.). Diesen Charakter behält er<br />
auch in den neueren Theorien, die ihn zu einer Theorie der Individuation umfunktionierten,<br />
ohne allerdings dessen androzentrische Prämissen kritisch zu reflektieren<br />
(ebd.: 6)<br />
8 Dieser Nachweis kann in diesem Rahmen nicht weiter ausgeführt werden. Vgl. bspw. Osterkamp 1976.<br />
9 Die Thematisierung frühkindlicher Sexualität, entgegen der zeitgenössischen und späteren Literatur, die den Beginn<br />
von Sexualität grundsätzlich bei dem Einsetzen der Pubertät ansiedelt, ist Freud unbedingt zugute zu halten.<br />
10 Es handelt sich hier um jeweilige primäre Bezugspersonen, egal welchen Geschlechts und unabhängig vom<br />
tatsächlichen Verwandtschaftsgrad.<br />
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