Kritik mit Methode? - Rosa-Luxemburg-Stiftung
Kritik mit Methode? - Rosa-Luxemburg-Stiftung
Kritik mit Methode? - Rosa-Luxemburg-Stiftung
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
elle auf einem Blatt Papier transformiert. Die Dreidimensionalität wird zu einer<br />
Zweidimensionalität. Solange die Informationen aus Erde bestehen, können sie<br />
nur eingeschränkt wissenschaftlich ausgewertet werden, denn sie sind dann nur<br />
für vor Ort Anwesende erkennbar. Erst wenn sie in einen anderen Zustand, in eine<br />
andere Dimension, nicht zuletzt in einen anderen Maßstab verwandelt werden,<br />
sind ihre Informationen transportierbar und da<strong>mit</strong> ortsunabhängig lesbar und verwertbar.<br />
Da<strong>mit</strong> einher geht eine Übersetzung von einer auch ›anfassbaren‹ in eine<br />
›lesbare‹ Information, denn die greifbare Erde wird in Zeichen verwandelt. Die<br />
Fundstelle ist dann »no longer a physical site, made of dirt and sharp stones, no<br />
longer the location of buried treasure, but an abstract, immaterial structured set of<br />
lines, numbers and text« (Lucas 2001: 58). 9 Die Ausgrabung strukturiert die vorgefundene<br />
Erde also durch ihre Einteilung in Flächen und durch Vergabe von Kodierungen,<br />
indem die Grabungsfläche durch die Anlage von künstlichen Schnitten<br />
zerteilt wird, die durch Nummerierung strukturiert werden. Ähnliches hat Latour<br />
im Hinblick auf die Bodenkunde konstatiert. Hier berichtet er von der Expedition<br />
einer interdisziplinär besetzten Forschergruppe, die sich <strong>mit</strong> Bodenbildungsprozessen<br />
in einem brasilianischen Wald beschäftigt. Er stellt dabei fest, dass auch<br />
ein solches ›nicht-laborwissenschaftliches‹ Forschungsvorhaben bestrebt ist, die<br />
Natur durch Einteilungen und Codevergabe in ein Laboratorium zu verwandeln<br />
(Latour 2000: 44). Durch Gliederung und Kategorisierung wird unstrukturierte<br />
Materie zu einem systematisch untersuchbaren Forschungsobjekt gemacht. Es<br />
findet also kein ›direkter‹ Zugriff auf den Ausgangspunkt statt, jede Forschung<br />
formatiert zugleich ihre Untersuchungsgegenstände.<br />
Eine Inskription ist eine Festschreibung, die immer einen Bruch beinhaltet,<br />
aber zugleich auch eine Kontinuität herstellt, denn alle Transformationen, Transmutationen<br />
und Übersetzungen beziehen sich auf das gleiche Ausgangsmaterial.<br />
Latour bezeichnet dieses Phänomen als »Transsubstantation« (ebd.: 78). Es ist<br />
also keine Nachahmung der vorangegangenen Schritte, sondern ein Anschluss an<br />
diese, da der Inskriptionsprozess auch wieder zurückverfolgt werden kann. Das<br />
trifft bei der Ausgrabung nur teilweise zu, stellt Gavin Lucas fest. Denn der<br />
Schritt von den Zeichnungen, Beschreibungen und Fotos zum Urzustand der Ausgrabungsstelle<br />
kann nicht mehr zurückverfolgt werden, da dieser Zustand gar<br />
nicht mehr existiert, sondern im Prozess der Materialisation zerstört wird. Die gezeichnete<br />
Dokumentation beispielsweise kann also nicht mehr <strong>mit</strong> der ursprünglichen<br />
Bodenbeschaffenheit verglichen werden, sondern nur <strong>mit</strong> anderen Dokumenten<br />
wie Fotos oder Beschreibungen oder <strong>mit</strong> anderen Ausgrabungsstätten<br />
(Lucas 2001: 213). Archäologische Befunde sind dann nur noch in Form der von<br />
ihnen hergestellten Inskriptionen sichtbar, nicht mehr in ihrer Erdform (ebd.).<br />
9 »nicht länger eine physische, aus Dreck und scharfen Steinen bestehende Ausgrabungsstätte, nicht mehr der Ort<br />
verborgener Schätze, sondern ein abstraktes, immaterielles, strukturiertes Set aus Linien, Nummern und Text.«<br />
273