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Kritik mit Methode? - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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Gleichzeitig lässt sich feststellen, dass ich <strong>mit</strong> diesem Arrangement nicht einverstanden<br />

bin, da ich mich konsequent an die Mädchen als ganze Gruppe wende,<br />

und da<strong>mit</strong> auch die Anderen zu Beiträgen auffordere – auch dies weckte in der Interpretationsgruppe<br />

Assoziationen zu einer Unterrichtsstunde in einer modernen<br />

Schule, an der sich alle Schülerinnen beteiligen sollen, um sie zu fördern, sich jedoch<br />

auch ein Urteil über ihre Leistungen und Kompetenzen zu bilden. Dieses<br />

Moment der Individualisierung, das in der modernen Schule vorweggenommen<br />

wird, findet sich auch in meiner Frage nach der späteren Arbeitsstelle und der Situation<br />

auf dem Arbeitsmarkt.<br />

5.3.3. Psychoanalytische Interpretation<br />

Aus psychoanalytischer Perspektive geht es hier um eine Gruppe von Mädchen<br />

bzw. Frauen in unterschiedlichen Stadien der Adoleszenz, also in einer Phase der<br />

Entwicklung der eigenen Sexualität und der Ablösung von der Familie, die sich<br />

einem männlichen Forscher gegenübersehen, der vorher des Öfteren willkommenes<br />

Publikum für die Inszenierung der »offenen Geheimnisse« des Internats war.<br />

Insbesondere Tania trat dabei sehr selbstbewusst auf, so wie auch hier. Als »Führungspersönlichkeit«,<br />

als die sie von den Mädchen offensichtlich akzeptiert wird,<br />

repräsentiert sie aus psychoanalytischer Perspektive auch das kollektive Ich-Ideal<br />

der ganzen Gruppe: eine junge Frau, die neue und unbekannte Anforderungen,<br />

wie sie sich hier in meinem Forschungsvorhaben ausdrücken, selbstbewusst und<br />

eloquent angeht.<br />

Wenn die Art, wie hier <strong>mit</strong> dem Forscher umgegangen wird, als beispielhaft für<br />

die alltägliche Konfrontation der Mädchen <strong>mit</strong> dem Neuen und Fremden in der<br />

Stadt und der modernen Institution Internat gelesen werden kann, so ist hier nun<br />

von besonderer Bedeutung, dass die anderen Mädchen entweder als Gruppe antworten<br />

oder gar nicht; hierin drückt sich die wichtige Rolle dieser peer group für<br />

sie aus: Die Mädchen antworten gemeinsam auf die kommenden Herausforderungen,<br />

unterstützen sich gegenseitig und experimentieren im Zusammenhalt <strong>mit</strong> der<br />

fremden Situation; die Gruppe dient als Rückzugsraum bei Gefühlen der Überforderung<br />

oder des Unverständnisses.<br />

Nun fordern die Fragen des Forschers jedoch gerade Gesprächsbeiträge von<br />

den Einzelnen, was letztlich auch auf die kränkende Frage verweist, inwieweit<br />

man selbst – als Einzelne – dem von Tania verkörperten Ideal entspricht. Thematisch<br />

konfrontiert die Frage am Ende der Initialszene – die Frage, wo die<br />

Mädchen später arbeiten wollen – gewissermaßen schon <strong>mit</strong> dem Ende der Adoleszenz<br />

bzw. <strong>mit</strong> einer Zeit, in der ihnen der schützende Raum des Internats und<br />

der peer group nicht mehr zur Verfügung stehen wird, und in der sie wieder vereinzelt<br />

aufs Land müssen, um als Lehrerin zu arbeiten. Tania bekräftigt ihren<br />

Wunsch, nach einigen Jahren wieder zurück in die Stadt zu kommen, die hier<br />

metaphorisch für die Offenheit und die Entwicklungsmöglichkeiten der Adoleszenz<br />

zu stehen scheint.<br />

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