Diskurslage erweiterte Dialogprozesses Veränderungen
BMAS_Werkheft-2
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Kontext<br />
DIE KRAFT DES<br />
SONNTAGS<br />
WIEDERENTDECKEN<br />
Karl Kardinal Lehmann<br />
Von Zeit zu Zeit gibt es eine ganz besonders auffallende Koalition, wenn<br />
nämlich Gewerkschaften und Kirchen Seite an Seite um den Erhalt von<br />
Fest- und Feiertagen kämpfen. Dabei sind die Interessen zunächst gewiss<br />
unterschiedlich, treffen sich jedoch am Ende im Widerstand gegen eine<br />
bis ins Privatleben reichende ökonomische Vereinnahmung des Menschen.<br />
In seiner kulturgeschichtlichen Herleitung beleuchtet der Autor den genuinen<br />
Sinn des Sonntags. Richtig verstanden und nicht zum »Wochenende«<br />
degradiert, vermag er die Gesellschaft zu stärken.<br />
1 FRÜHE GESCHICHTE DES SABBATS/<br />
SONNTAGS<br />
Zunächst fällt in der Kulturgeschichte der<br />
Arbeit eine immer wiederkehrende Unterbrechung<br />
auf, die den Menschen für kurze Zeit vom<br />
Arbeiten befreit. Bei allen inhaltlichen und narrativen<br />
Unterschieden ist ein Muster erkennbar:<br />
ein Zeitraum zwischen sechs und zehn Tagen, eine<br />
»Woche«, bis der Einschnitt dieses besonderen<br />
Tages der Ruhe eintritt. Revolutionen, die den<br />
Sonntag zeitlich und vor allem thematisch ganz<br />
anders bestimmen wollten, sind bald gescheitert. 1<br />
Die Frage erhebt sich, was wohl in der vielfältigen<br />
Erfahrung der Menschheit für einen solchen –<br />
meist arbeitsfreien – Tag spricht.<br />
Seine einzigartige und von allen anderen<br />
Tagen der Woche unterschiedene Bedeutung in<br />
der europäischen Kulturgeschichte erlangte der<br />
Sonntag in der Verbindung mit dem jüdischen<br />
Sabbat und in der christlichen Überlieferung<br />
durch die Auferstehung Jesu Christi (Mt 28; Mk<br />
16; Lk 24; Joh 20). Dies trug dem Sonntag sehr früh<br />
den Ehrentitel »Tag des Herrn« (Offb 1,10) ein und<br />
führte auch sehr früh dazu, dass die Gemeinde am<br />
Sonntag Gottesdienst feierte.<br />
Von der Schöpfung und ihrem Abschluss im<br />
Sabbat ergab sich die Aufforderung an den Menschen,<br />
den Sabbat als Ruhetag Gottes dadurch<br />
zu heiligen, dass die Menschen ihn ebenfalls als<br />
Ruhetag begehen. So heißt es bereits in den Zehn<br />
Geboten: »Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig!<br />
Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun.<br />
Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem<br />
Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun:<br />
du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und<br />
deine Sklavin, dein Vieh und der Fremde, der in<br />
deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat. Denn in<br />
1<br />
Vgl. z. B. für die Französische Revolution Maier (1991: S. 100–107; 1999; 2015).<br />
ARBEITEN 4.0 WERKHEFT 02 SEITE 209