Diskurslage erweiterte Dialogprozesses Veränderungen
BMAS_Werkheft-2
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Kontext<br />
die Woche öffnet sich am Sonntag auf das Lebensganze<br />
hin, auf die Frage nach dem Woher und<br />
Wohin sowie dem Sinn des Lebens überhaupt. So<br />
ist der Sonntag eine Form, »Zustimmung zur Welt«<br />
(Josef Pieper) und zum Leben im Ganzen zu geben,<br />
sich des Lebenssinns zu vergewissern und sich für<br />
Transzendenz und Gott zu öffnen. Insofern ist die<br />
Feier des Sonntags ein Erfordernis der Menschenwürde,<br />
eine Auflehnung gegen die Vermarktung<br />
des Menschen und gegen seine Versklavung durch<br />
die Arbeitswelt. Als ein Tag der Gemeinschaft, der<br />
Kultur und der Pflege gesellschaftlicher Intimräume<br />
(Ehe und Familie, Freundschaften usw.)<br />
wirkt er Vereinsamung und Anonymität in der<br />
heutigen Gesellschaft entgegen. So ist er auch der<br />
Tag der Gottesverehrung, ja, die religiöse Herkunft<br />
und Struktur stützen und sichern den Sonntag in<br />
seiner wesentlichen Bedeutung. Ist der Sonntag<br />
ohne eine solche Verwurzelung in der Transzendenz<br />
zu retten? Ich lasse die Antwort offen.<br />
Diese wesentliche Bedeutung für die Gesellschaft<br />
kann der Sonntag allerdings nur dann<br />
gewinnen, wenn er grundsätzlich von allen<br />
gemeinsam gehalten wird. Selbstverständlich<br />
gibt es Arbeiten, die auch am Sonntag geleistet<br />
werden müssen. Sie sollten jedoch im Interesse<br />
aller auf jene Aufgaben beschränkt werden, die<br />
für das Gemeinwohl unbedingt erforderlich sind.<br />
Die Sorge um den Sonntag muss darum auch<br />
von den Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft,<br />
Kultur und Sport mitgetragen werden. Der<br />
Sonntag – übrigens ebenso wie der Sabbat – war<br />
freilich in seiner Geschichte immer wieder von<br />
einer schleichenden Erosion durch verschiedene<br />
Interessen gefährdet. Dabei gab es auch grundlegende<br />
Missverständnisse. Ein besonders bedauerlicher<br />
Bruch mit der Tradition war allerdings die<br />
Empfehlung der Internationalen Organisation für<br />
Standardisierung (ISO), einer Unterorganisation<br />
der UNO, ab 1.1.1970 den Sonntag als letzten Tag der<br />
Woche zu betrachten. Die Regelung wurde ab 1975<br />
bindend auch in der Bundesrepublik Deutschland<br />
eingeführt, wie man leicht an Fahrplänen aller Art<br />
ablesen kann. Im Neuen Testament ist der Sonntag<br />
der »erste Tag der Woche« (Mt 28,1).<br />
Vielleicht wird jetzt auch vor dem Hintergrund<br />
des biblischen Gebots die nicht nur religiöse,<br />
sondern auch anthropologische Bedeutung<br />
des Schutzes des Sonntags erkennbar. Die Unterbrechung<br />
eines ständigen Arbeitsprozesses dient<br />
dazu, den Menschen den Zwängen eines Arbeitseinsatzes<br />
zu entreißen, der die körperlichen Kräfte<br />
bedenkenlos ausnützt, mitverantwortlich ist für<br />
gesundheitliche Schäden, Menschen geistig und<br />
psychisch in hohem Maße okkupiert und verantwortlich<br />
ist für die sozialen Folgen und Schäden.<br />
Der Sonntag als Pause und Unterbrechung des<br />
ständigen Arbeitszwangs ist schon menschlich<br />
eine Befreiung von den unvermeidlichen Nötigungen<br />
eines dauernden Einsatzes. Die Erholung,<br />
der Abstand vom Alltäglichen an den Sonntagen,<br />
den Fest- und Feiertagen erlauben eine solche<br />
Distanznahme: »Die Anspannung fällt ab. Die<br />
Stimmung hellt sich auf. Freude, Leichtigkeit,<br />
eine getragene oder eine ausgelassene Stimmung.<br />
Hier wird ein kleiner Erfolg, ein Abschied oder ein<br />
Wiedersehen gefeiert. Dort ein Namenstag, ein<br />
Jubiläum, ein Geburtstag. Feiern kann man sehr<br />
vieles. Manche Feiern versammeln eine Nation,<br />
andere Gläubige einer bestimmten Religion. – Wo<br />
Menschen leben, feiern sie. Sie feiern gemeinsam,<br />
mit anderen. Denn ganz alleine, nur für sich, kann<br />
man nicht feiern. Und wer feiert, tut nicht einfach<br />
nur etwas Besonderes. Er tut, was er im Alltag<br />
auch tut, in besonderer Weise. Das Alltägliche –<br />
Essen, Trinken, Sich-freuen, Miteinandersprechen,<br />
Singen – geschieht dann in einer festlichen oder<br />
feierlichen Form … Wer feiert, schöpft nicht einfach<br />
nur Kraft für den Alltag. Nicht der Sonntag<br />
dient dem Wochentag, sondern umgekehrt. Im<br />
Feiern zeigt sich jener Sinn, der auch das alltägliche<br />
Leben durchwaltet. Denn wer feiert, schaut<br />
zurück, erinnert sich und dankt für das, was war<br />
und was ist. – Die Feiernden schauen aber nach<br />
vorne und hoffen, dass es gut weitergeht. Zustimmung<br />
zum Leben, Freude im Leben auch dort, wo<br />
es schwer fällt, das ist der innere Sinn des Feierns.<br />
Wer feiert, sagt ›Ja‹. Eine gelungene Feier lässt die<br />
Zeit vergessen. Eine solche Feier ist nicht einfach<br />
Bild für gelungenes Menschsein, für Glück. In ihr<br />
glückt Menschsein. – Und doch verweist jede Feier<br />
auf mehr, auf ein anderes Glück. Denn jedes Fest<br />
kommt einmal zu einem Ende. Die Sehnsucht nach<br />
einem dauernden Glück, einem Feiern ohne Alltag<br />
bleibt. Daher ist das Feiern (nicht nur die Feier<br />
des Gottesdienstes) immer auch ein Stachel, der<br />
uns unruhig zurücklässt – und uns immer wieder<br />
feiern lässt.« 5<br />
5<br />
Holger Zaborowski (2015: S. 21 f.; vgl. auch S. 28 ff.; 38 ff.; 74 ff.; 96 ff.; 100; 101 f.; 142 ff.); Pieper (2007). Aus jüdischer Sicht immer noch eindrucksvoll<br />
Heschel (1990); Haug/Warning (1989: S. 649–695).<br />
ARBEITEN 4.0 WERKHEFT 02 SEITE 213