Dekan: Prof. Dr. Martin Hautzinger - Universität Tübingen
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Clemens Krause: Posthypnotische Amnesie für therapeutische Geschichten 43<br />
3 Mechanismen des Vergessens<br />
Menschen brauchen ihr Gedächtnis in vielen Situationen des alltäglichen Lebens. Das<br />
menschliche Gedächtnis kann, auch wenn es nicht perfekt ist, große Mengen von Information<br />
kodieren und auch relativ genaue Information über vergangene Ereignisse abrufen. Vergessen<br />
ist jedoch ein allgegenwärtiges Merkmal des Gedächtnisses. Nicht alles, was wir erinnern, ist<br />
genau; Erinnerungen können auch verzerrt sein. Unser Gedächtnis kann uns im Stich lassen,<br />
weil Information entweder verloren geht oder vorübergehend nicht zugänglich ist, oder weil<br />
das Erinnerte nicht mit dem, was wirklich geschah, übereinstimmt. In diesem Kapitel soll der<br />
Frage nachgegangen werden, welche Faktoren das Erinnern beeinflussen, es erleichtern bzw.<br />
erschweren. Eine weitere Frage, die hier aufgeworfen wird und die besonders in der jüngeren<br />
Zeit viele Forschungsarbeiten hervorgerufen hat, ist die nach der Genauigkeit von<br />
Erinnerungen bzw. welche Faktoren die Übereinstimmung von Realität mit<br />
korrespondierenden Gedächtnisinhalten beeinflussen. Der zuletzt genannte Bereich soll in der<br />
vorliegenden Arbeit jedoch nur am Rand behandelt werden. Interessierte Leser seien auf<br />
vertiefende Literatur verwiesen, auf die an den entsprechenden Stellen hingewiesen wird.<br />
Das Kapitel geht Fragestellungen nach, die sich v.a. durch die kognitive, aber auch die<br />
neuropsychologische Gedächtnisforschung ergeben. Faktoren die den Gedächtnisabruf stören<br />
oder verhindern sind z.B. inkongruente Abrufumgebungen, Interferenz durch vorher oder<br />
nachfolgend gelernte Information, oder intentionales Vergessen adäquat kodierter und<br />
verarbeiteter Information. Faktoren, die Gedächtnisinhalte verzerren können, sind<br />
Intrusionen 10 und falsches Wiedererkennen. So kann es z.B. dazu kommen, daß eine<br />
Phantasie fälschlicherweise als ein reales Erlebnis wiedererkannt wird. Sowohl die<br />
Zugänglichkeit zu Gedächtnisinhalten als auch deren Genauigkeit hängt von einer Vielzahl<br />
von Faktoren und Bedingungen ab, auf die nachfolgend genauer eingegangen wird.<br />
3.1 Abwesenheit ausreichend informativer Cues, um den Abruf zu leiten oder zu<br />
gewährleisten<br />
Bewußter bzw. willentlicher Abruf von Erfahrungen wird aktiv durch Information gelenkt, die<br />
momentan im Bewußtsein vorhanden ist und durch das Wissen einer Person um das, was sie<br />
erinnern möchte. Mehrere Forscher (z.B. Morton, Hammersley & Bekerian, 1985; Norman &<br />
Bobrow, 1979) haben vorgeschlagen, daß der Prozeß des Abrufs zwei Phasen enthält: Eine<br />
erste Phase, in der eine Beschreibung oder eine Repräsentation von kritischen Merkmalen der<br />
gesuchten Information erzeugt wird, und eine zweite Phase in welcher der Zugang zur<br />
gesuchten Information vorgenommen wird. Die Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen<br />
Zugangs zu einem bestimmten Gedächtnisinhalt hängt von zwei Faktoren ab: Dem Ausmaß,<br />
mit dem die erzeugte Beschreibung mit den kritischen Merkmalen des gesuchten<br />
Gedächtnisinhalts übereinstimmt und dem Ausmaß, mit dem die Beschreibung diesen Inhalt<br />
von anderen ähnlichen Erinnerungen differenziert. Teilen die ursprüngliche Kodierung und<br />
die Beschreibung bzw. der gesamte Abrufkontext viele Attribute, so besteht ein hohes Maß an<br />
Überschneidung.<br />
Zumeist kommen drei Paradigmen in Studien, in denen Probanden Listen mit Items (z.B.<br />
Wörter, Figuren) zum Lernen dargeboten werden, zur Anwendung: Freie Wiedergabe,<br />
Wiedergabe auf einen Cue hin und Wiedererkennen. Die Gedächtnisleistung ist am<br />
niedrigsten in der Bedingung der freien Wiedergabe, etwas höher in der Bedingung der<br />
Wiedergabe auf einen Cue hin und am höchsten beim Wiedererkennen. Während im Fall der<br />
freien Wiedergabe eine Person lediglich auf den räumlich–zeitlichen Kontext zurückgreifen<br />
10<br />
eng. intrusions, im Sinne von sich aufdrängenden Inhalten, die nicht dem gesuchten Gedächtnisinhalt<br />
entsprechen.