Dekan: Prof. Dr. Martin Hautzinger - Universität Tübingen
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Clemens Krause: Posthypnotische Amnesie für therapeutische Geschichten 61<br />
irreführende Information schon im Gedächtnis einer Person eingebettet hat und mit anderen<br />
Inhalten assoziativ verwoben ist (s. Übersicht bei Koutstaal & Schacter, 1997).<br />
3.9 Besonderheiten beim Erinnern und Vergessen von komplexen Texten<br />
Die oben dargestellten Erkenntnisse über das Vergessen wurden bis auf wenige Ausnahmen<br />
anhand von Material gewonnen, wie es uns im Alltag kaum begegnet. Wortlisten entsprechen<br />
kaum der Vielfalt an Information, die wir täglich aufnehmen, speichern, erinnern und zu<br />
einem großen Teil auch wieder vergessen. Häufig begegnet uns Wissen im Alltag in Form<br />
von komplexen Texten, aus denen wir Information extrahieren und uns einprägen müssen, sei<br />
es in der Schule oder im Studium. Auch jüngere Kinder werden relativ früh mit Geschichten<br />
und Märchen konfrontiert, die ihnen Wissen über soziale Beziehungen, Moral und<br />
Persönlichkeitsentwicklung vermitteln und dabei noch einen hohen Unterhaltungswert haben.<br />
Versucht man das Behalten von komplexen Texten empirisch zu erforschen, so treten andere<br />
methodische Überlegungen in den Vordergrund, als dies bei Wortlisten der Fall ist, bei denen<br />
viele Variablen genauer kontrolliert und manipuliert werden können. Im Folgenden sollen<br />
Besonderheiten, die sich beim Erinnern und Vergessen von komplexem Textmaterial ergeben,<br />
genauer betrachtet werden.<br />
Einer der meist zitiertesten Forscher, der das Gedächtnis für komplexe Texte untersucht hat<br />
ist Bartlett. In seinem 1932 veröffentlichten Buch „Remembering“ kritisierte er den Versuch<br />
der Gedächtnisforschung, Bedeutung aus der Analyse des Gedächtnisses auszuschalten. Er<br />
erachtet Bedeutung als sehr wichtig für das Gedächtnis. Seinen Pbn gab er eine indianische<br />
Sage und ließ sie diese nach unterschiedlichen Behaltensintervallen, die teilweise mehrere<br />
Jahre betrugen, rezitieren. Er fand heraus, daß bei der Erinnerung dieser Sage, die in ihrer<br />
Struktur und Handlung nicht europäischen Maßstäben entsprach, besonders viele<br />
Verzerrungen des Inhalts zu beobachten waren. Die Pbn tendierten dazu, vertraute<br />
Vorstellungen zu erinnern, während sie unvertraute, unerwartete Vorstellungen eher vergaßen<br />
oder ihrem Weltmodell anpaßten. Mysteriöse Ereignisse wurden so rationalisiert und durch<br />
Ausdrücke ersetzt, die mit den Erwartungen der Pbn konsistent waren. Bartlett bezeichnete<br />
solche Gedächtnisleistung als eine Suche nach Bedeutung, bei der jeder Pb die Geschichte auf<br />
seine eigene Deutung der Welt bezieht. Er schloß weiterhin, daß das Gedächtnis ein<br />
rekonstruktiver Prozeß sei und kein bloßes Kopieren von Objekten und Ereignissen der<br />
Umwelt. Weitere Erkenntnisse aus Bartletts Forschung zeigten auf, wie ungenau die wörtliche<br />
Erinnerung von Texten ist und wie sehr sich die Pbn bei einer Nacherzählung von<br />
Textpassagen an der Hauptaussage einer Geschichte orientieren. Details und Stil einer<br />
Geschichte wurde oft stark verändert, meist in der Form, daß die Nacherzählungen stereotyper<br />
wurden. Aufgrund dieser Ergebnisse kam er dazu, Jahre vor Piaget, den Schema Begriff<br />
einzuführen, ein Begriff, der besonders nach der kognitiven Wende, die Forschung<br />
entscheidend beeinflußte: „Schema refers to an active organisation of past reactions, or past<br />
experiences, which must always be supposed to be operating in any well adapted organic<br />
response“ (p. 201). Im vorherigen Kapitel wurde schon darauf eingegangen, wie Schemata<br />
Erinnerungen beeinflussen und verzerren können (z.B. Selbstbild konsistente Erinnerungen<br />
werden besser erinnert). Bartlett war der Ansicht, daß die meisten Pbn bei der Rezitation einer<br />
Geschichte die Hauptaussage erinnern und dann Schemata verwenden, um den Rest zu<br />
rekonstruieren (s. Kap. 2.3.1 zur Entstehung eines Schemas für die Struktur von Märchen).<br />
Laut Kintsch (1982) ist die Vertrautheit mit den typischen Strukturen langer Texte ein sehr<br />
wichtiger Faktor für das Textverständnis. Möchte man einen Artikel in einer psychologischen<br />
Fachzeitschrift lesen, erleichtert die Kenntnis der typischen Form solcher Artikel das<br />
Verständnis bedeutend. Es ist genau definiert, welches Material in welchem Abschnitt<br />
enthalten ist. Auch Erzählungen haben starre kulturspezifische Strukturen. Slawische Epen,