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Dekan: Prof. Dr. Martin Hautzinger - Universität Tübingen

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Clemens Krause: Posthypnotische Amnesie für therapeutische Geschichten 8<br />

2 Das Gedächtnis<br />

Das menschliche Gehirn besteht aus vielen 100 Milliarden Nervenzellen (10 hoch 11),<br />

mehreren 100 Billionen Synapsen (10 hoch 14). Die Gesamtlänge aller im Gehirn<br />

vorhandenen Nervenfasern entspricht einer Strecke von der Erde zum Mond und zurück. Über<br />

40 verschiedene Transmittersubstanzen differenzieren erregende von hemmenden Synapsen.<br />

Pro Erinnerungsvorgang werden zwischen 10 hoch 7 und 10 hoch 9 Nervenzellen aktiviert<br />

(Rahmann & Rahmann, 1988). Trotz riesiger Fortschritte in den vergangenen Jahren sind wir<br />

immer noch nicht in der Lage, die komplexen Gegebenheiten, der neuronalen<br />

Informationsverarbeitung, -speicherung und -nutzung, detailliert zu erfassen und zu verstehen.<br />

Allen psychischen Prozessen liegen ganz bestimmte neuronale Erregungsmuster zugrunde.<br />

Auch die Frage nach der Lokalisation des Gedächtnisses innerhalb des Nervensystems ist<br />

derzeit noch nicht erschöpfend zu beantworten. Es scheint als wäre das Gedächtnis ein höchst<br />

aktives, dynamisches Organ, in ständiger Selbstorganisation und Veränderung begriffen.<br />

Dennoch gibt es in der Neurobiologie, der Neuropsychologie und der kognitiven Psychologie<br />

ermutigende Ansätze dem Gedächtnis, seinen Strukturen und Prozessen, Schritt für Schritt<br />

„auf die Spur“ zu kommen.<br />

Die Gedächtnisforschung ist eines der ältesten und zugleich eines der aktuellsten<br />

Forschungsgebiete der Psychologie und war zuvor schon Gegenstand der Philosophie. Popper<br />

unterstreicht die Bedeutung des Gedächtnis für die Ich-Bewußtheit. Zustände, die restlos aus<br />

dem Gedächtnis verloren wurden, kann man nicht als Ich-Zustände bezeichnen. Die<br />

Disposition, etwas in das Bewußtsein zurückzurufen bezeichnet er als wichtig für das was als<br />

Gedächtnis bezeichnet werden kann. Es bringe die potentielle Kontinuität des Ich hervor<br />

(Popper & Eccles, 1982). In dieselbe Richtung gehen Dörner und van der Meer (1995), wenn<br />

sie feststellen, daß das Gedächtnis Medium aller psychischer Zustände und Prozesse ist. Das<br />

Gedächtnis verbindet Gegenwart mit Vergangenheit und Zukunft. Grawe (1998) betont die<br />

Wichtigkeit von Gedächtnisprozessen für die Psychotherapie. Alles, was ein Klient uns in der<br />

Therapie berichtet, ruft er aus seinem Gedächtnis ab. Wir arbeiten zumeist mit den<br />

Realitätskonstruktionen der Klienten bezüglich ihrer Erfahrungswelt. Aber längst nicht alle<br />

Gedächtnisinhalte sind bewußt explizierbar und einen Großteil unserer Erfahrungen können<br />

wir nicht bewußt verbalisieren, sei es, weil wir die Information nicht bewußt verarbeitet<br />

haben, obwohl sie gespeichert wurde oder weil die Information, obwohl sie zu einem<br />

vergangenen Zeitpunkt bewußt wahrgenommen wurde, der bewußten Erinnerung nicht mehr<br />

zugänglich ist, implizit aber doch unsere Wahrnehmung und unser Verhalten beeinflußt (s.<br />

Kihlstrom, 1987; Kap. 3.10). Das zeigt: Gedächtnisinhalte liegen nicht in Form invarianter<br />

Strukturen vor, sondern werden unter dem Einfluß aktueller Kontextbedingungen neu<br />

konstruiert. Das Gedächtnis ist keine Kamera, die Ereignisse genauso wiedergibt wie sie<br />

aufgezeichnet wurden und stellt eher einen rekonstruktiven als einen reproduktiven Prozeß<br />

dar oder wie es Loftus und Loftus (1980) ausdrücken: Erinnerung ist ein Produkt aus<br />

vergangenen Wahrnehmungsinhalten und Einflüssen der aktuellen Situation, in der die<br />

Erinnerung stattfindet.<br />

Daß sich die Komplexität des Forschungsgebietes auch in der Anzahl von Theorien und<br />

Modellen widerspiegelt, ist nicht zu leugnen. Häufige Paradigmenwechsel in den letzten 40<br />

Jahren, interessante, aber in ihrer Aussagekraft sehr begrenzte Miniaturmodelle, viele<br />

inkonsistente Ergebnisse, vor allem auf dem Gebiet der kognitiven Gedächtnisforschung,<br />

lassen einen Außenstehenden, der sich über Ergebnisse der Gedächtnisforschung informieren<br />

möchte, oft verwirrt und unzufrieden zurück. Nicht nur Perrig (1988) fordert einen<br />

umfassenden theoretischen Rahmen, der möglichst viele der empirischen Daten erklären<br />

kann, sowie ökologisch validere Fragestellungen. Bower (1998) spricht in diesem

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