Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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104 Michael Lukas Moeller<br />
psychothérapie sind die sogenannten living units, d. h. Wohneinheiten,<br />
in denen gesunde und psychisch gestörte Studenten zusammenleben.<br />
Die Ergebnisse solcher Laienbehandlungen sollen professionelle<br />
Therapie teilweise übertreffen. Auch wenn Kranke sich gegenseitig<br />
therapieren, können sich günstigere Resultate ergeben. Die<br />
Erfolge der anonymen Alkoholiker übertreffen die professionellen<br />
Therapieresultate (wenigstens, was den Alkoholismus betrifft). In<br />
den USA soll es heute bereits ähnliche Gruppenselbstbehandlungen<br />
bei psychischen Störungen unter dem Namen „anonyme Neurotiker"<br />
geben. Wir versuchen eine gruppenspezifische Selbsthilfe in Form<br />
von Kontaktgruppen ratsuchender Studierender einzurichten, die wir<br />
selbst aus Mangel an Behandlungskapazität nicht versorgen können.<br />
Die Selbsthilfebewegung in der Bevölkerung wird die ängstlichen<br />
Versuche der Experten wahrscheinlich schnell überflügeln. Umfangreiche<br />
Laienorganisationen therapeutischen Charakters sind in der<br />
letzten Zeit entstanden. Um nur einige zu zitieren: Selbsthilfe Krebskranker<br />
in Wiesbaden; Altenselbsthilfe in Hamburg; Nachbarschaftshilfe<br />
in Darmstadt; Selbsthilfe Drogensüchtiger in Frankfurt (Frankfurter<br />
Rundschau Juni/Juli 19<strong>71</strong>) *. Diese Bewegung ist ein Teil einer<br />
größeren Entwicklung, der sogenannten Bürgerinitiativen, die sich in<br />
zahlreichen sozialpolitisch wichtigen Bereichen auftun, wie im Wohnungswesen,<br />
der Rechtsreform, der Kindererziehung und der Schulpraxis<br />
(vgl. Großmann [HG] 19<strong>71</strong>; zum Selbsthilfesystem der Arbeiterschicht<br />
vgl. Halbertsma 1970).<br />
6. Für alle genannten Aktivitäten — extraklinische Versorgung,<br />
Laientherapie und Selbsthilfe — muß begleitende Forschung gefordert<br />
werden. Nur durch empirisch belegbare Ergebnisse ist eine<br />
Rückkoppelung, eine Steuerung und die Möglichkeit zur kreativen<br />
Änderung der therapeutischen Ansätze garantiert. Für diese Forschung,<br />
Versorgung und <strong>für</strong> die Ausbildung müßten an psychotherapeutischen<br />
<strong>Institut</strong>ionen Sozialpsychotherapeutische Abteilungen<br />
entstehen. Da psychisch Kranke sich von der Therapie durch<br />
versorgungsmeidendes Verhalten selbst ausschließen, wären solche<br />
extraklinisch orientierte <strong>Institut</strong>ionen in der Psychotherapie ebenso<br />
nötig wie in der Psychiatrie. Darüber hinaus ist diese Aufgabe <strong>für</strong><br />
jede medizinische Disziplin relevant. Im Gesundheitsbericht der Bundesregierung<br />
1970 wird nach ersten systematischen Experimenten in<br />
Hessen mit extraklinischer und ambulanter Untersuchung festgestellt,<br />
daß die „Häufigkeit... von Krankheiten . . . höher liegt als<br />
bisher selbst von Pessimisten angenommen". <strong>Das</strong> arztaverse Verhalten<br />
scheint also bei allen Kranken in seiner Bedeutung unterschätzt<br />
zu werden. Zusätzlich zu einem <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Sozialmedizin wären<br />
dezentralisierte mit den therapeutisch aktiven, klinischen Disziplinen<br />
eng verbundene sozialmedizinische Abteilungen erforderlich. Neben<br />
die Laborforschung muß gleichberechtigt die Feldforschung treten.<br />
* Sozialistisches Patientenkollektiv in Heidelberg (Basisgruppe Medizin<br />
1970).