Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Psychopathie? Soziopathie? 65<br />
lichkeit bedurften, „sich zu entfalten". Eine solche <strong>Theorie</strong> ließ sich<br />
sehr gut als konservative Rationalisierungsideologie verwenden, die<br />
den ins Wanken geratenen Glauben an die Unabänderlichkeit der<br />
sozioökonomischen Verhältnisse stabilisieren half. Diese Funktion<br />
dürfte vor allem dazu beigetragen haben, daß sie sich in akademischen<br />
Kreisen ebenso wie in der Jurisprudenz und in der Gesundheitsbürokratie<br />
durchsetzen und dort über ein halbes Jahrhundert<br />
an der Macht halten konnte.<br />
B Die „herrschende Lehre" (Kurt Schneider) und ihre Folgen.<br />
Gegenüber der frühen Psychopathielehre von Koch 13- 13a, Möbius 8,<br />
Birnbaum 17 u. a., die vor allem den Gesichtspunkt der „Minderwertigkeit"<br />
in den Vordergrund ihrer Betrachtungen stellten, unterscheiden<br />
sich die Psychopathietypen Schneiders 15 dadurch, daß durch sie Abweichungen<br />
vom Durchschnitt — und nicht von einer Idealnorm — in<br />
„unsystematischer" Weise erfaßt werden sollten. Der unsystematischdeskriptive<br />
Aspekt seiner Typologie wird vom Autor mehrfach hervorgehoben.<br />
Wenn man diese Typologie aber etwas näher betrachtet,<br />
so stellt sich heraus, daß nahezu alle etwas prononcierteren Charaktertypen<br />
zu den Psychopathen geschlagen werden. Weder schwerblütig<br />
noch heiter, weder skrupulös noch leichtherzig, weder gleichmütig<br />
noch temperamentvoll darf man sein, ohne in Gefahr zu geraten, den<br />
depressiven oder hyperthymischen, den sensitiven oder willenlosen,<br />
den gefühlsarmen oder explosiblen Psychopathen zugeschlagen zu<br />
werden. Die Offenheit des Systems läßt es fernerhin zu, daß diejenigen<br />
akzentuierten Charakterbildungen, die bei Schneider 15 noch nicht<br />
auftauchen, jederzeit später in die Gruppe der abnormen Persönlichkeiten<br />
hineingenommen werden können. Es wird hier also ein engmaschiger<br />
Raster geschaffen, der es erlaubt, jeden, der in einer<br />
Krisensituation sozial auffällig wird, als Mensch, „der nun einmal<br />
von Natur aus so ist", d. h. als abnorme Persönlichkeit zu klassifizieren.<br />
Eine ungewollte Bestätigung der These, daß mit dem Schneiderschen<br />
15 Begriffsnetz hauptsächlich normale Menschen eingefangen<br />
werden, findet sich bei der — in Deutschland einzigen — katamnestischen<br />
Untersuchung klinisch als Psychopathen klassifizierter Patienten<br />
durch Tolle 18 (1966). 60,9 % seiner Patienten machten in der 22—27<br />
Jahre dauernden Beobachtungszeit nur eine einzige „Krise" durch —<br />
diejenige, bei der sie sich ihr Psychopathenetikett erworben hatten;<br />
bei 24,3 % kam es noch zusätzlich zu einer einzigen weiteren und bei<br />
nur 7,8 %> zu 3 oder mehr weiteren Krisen. Diese Ergebnisse sprechen<br />
<strong>für</strong> sich. Sie haben aber keineswegs dazu geführt, die verwendeten<br />
nosologischen Kategorien aufzugeben, obwohl in der DDR Leon-<br />
17 Birnbaum, Carl: Über psychopathische Persönlichkeiten. Wiesbaden<br />
1909.<br />
18 Tölle, Bainer: Katamnestische Untersuchungen zur Biographie abnormer<br />
Persönlichkeiten. Monographien aus dem Gesamtgebiet der Neurologie<br />
und Psychiatrie Nr. 116, Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg-New<br />
York 1966, S. 43 ff.