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Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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Soziale Rolle und politische Emanzipation 125<br />

der noch nicht abgeschlossen ist. Die kapitalistische Tauschgesellschaft<br />

verlangt rationales Handeln im Sinne einer Optimalisierung<br />

von Zwecken und Mitteln, ein Verhalten, das verstärkte Selbstkontrolle<br />

und damit Rollendistanz voraussetzt 29 — die allmähliche Entwicklung<br />

jener „Selbstzwangsapparatur", die Norbert Elias als eine<br />

Folge der ökonomischen Funktionsverflechtung und der Monopolisierung<br />

der Gewalt beschrieben hat 30 . Die Geschichte des Kapitalismus<br />

ist also auch die Geschichte einer zunehmenden Verinnerlichung<br />

äußerer Zwänge.<br />

Da der Prozeß der Rationalisierung des Verhaltens und der wachsenden<br />

Affektkontrolle aber von den ökonomisch herrschenden<br />

Schichten seinen Ausgang nahm und sich erst langsam, schubweise<br />

und mit Brüchen in den unteren Schichten durchsetzt, lassen sich in<br />

verschiedenen gesellschaftlichen Klassen zu jeder Zeit historisch ungleichzeitige<br />

Verhaltensweisen beobachten: die unteren Schichten<br />

hinken im Bewußtsein gleichsam nach, haben historisch ältere Verhaltensweisen.<br />

Daher die späte und immer wieder prekäre Radikalisierung<br />

der Lohnabhängigen. Denn der Widerstand, der eine langfristige<br />

Strategie entwirft und sich psychisch auf ein „deferred gratification<br />

pattern" stützen muß, setzt jene Distanz zu den eigenen Rollen<br />

voraus, die zu entwickeln die Arbeiterschaft viel später als das<br />

Bürgertum erst eine Chance hatte. <strong>Das</strong> zeigt sich bis heute z. B. in<br />

der relativen Unfähigkeit der Arbeiterfamilien, Sozialisationspraktiken<br />

zu entwickeln, die die Entwicklung eines proletarischen Klassenbewußtseins<br />

unter Ausnutzung der Toleranzräume einer zumindest<br />

in den Ausbildungsinstitutionen zu relativer Liberalität gezwungenen<br />

Gesellschaft garantieren würden. Allerdings zeigt diese Unfähigkeit<br />

zugleich auch notwendig falsches Bewußtsein, weil es als<br />

Abwehrmechanismus der Lohnabhängigen gegenüber der erneuten<br />

Ausbeutung über den Konsumbereich fungiert. Denn das ist das<br />

sichtbarste Ergebnis jener Verbürgerlichungs- und Privatisierungstendenzen,<br />

die — entsprechend den Veränderungen in der Produktionssphäre<br />

— wie zuvor schon die Mittelschichten nun auch Teile der<br />

29 Hier vor allem hätte eine <strong>kritische</strong> Weiterentwicklung der Rollentheorie<br />

anzusetzen. Da<strong>für</strong> reicht es freilich nicht, den Begriff der Charaktermaske<br />

quasi zum Rollenbegriff von Marx hochzustilisieren (siehe<br />

Jutta Matzner, Der Begriff der Charaktermaske bei Karl Marx, in: Soziale<br />

Welt, Jg. 15, 1964, S. 130 ff.); vielmehr müssen die Kategorien des Tausches<br />

und der Kooperation, die einen zentralen Stellenwert bei Marx haben, im<br />

Hinblick auf die zunehmende Rationalisierung und Rollenhaftigkeit des<br />

Verhaltens in der bürgerlichen Gesellschaft untersucht werden. Vgl. dazu<br />

die Bemerkungen von Hans Joas, op. cit. Hier wäre auch zu untersuchen,<br />

ob Furth in seiner Kritik an der Vertragstheorie (S. 520 f.) nicht zu kurz<br />

schließt. Dazu Joas: „Charakteristisch ist, wie Furth in seiner Kritik an<br />

der Vertragstheorie diese nicht als spezifische Form des Erscheinens der<br />

Idee einer gewaltfreien Inter Subjektivität und selbstbestimmter Verhältnisse<br />

begreift, sondern sich bei ihrer Ableitung aus dem Äquivalententausch<br />

beruhigt" (S. 49).<br />

30 Norbert Elias, Uber den Prozeß der Zivilisation, 2. Auflage Bern<br />

und München 1969.

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