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Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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Eine Rollentheorie im revolutionären Kostüm 135<br />

ihrem wirklichen Tun. Sie verhalten sich wie Rollenspieler, die mal<br />

in diese, mal in jene Rolle, allerdings gezwungenermaßen, schlüpfen,<br />

um irgendwann zu ihrem „wirklichen Menschsein" zurückzukehren.<br />

So ist gerade das von Dreitzel zum Beleg <strong>für</strong> die dem Menschen<br />

konstitutive Rollenhaftigkeit angeführte Marxzitat *, daß der Mensch<br />

„außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich" sei, Beweis<br />

<strong>für</strong> die Notwendigkeit der Aufhebung der Rollenhaftigkeit. Marx<br />

zeigt an dieser Stelle, daß der Mensch (und mit Mensch meint er hier<br />

allein den Arbeiter), seiner Verwirklichung durch das Kapitalverhältnis<br />

in der Arbeit beraubt, sein Menschsein, das er doch nur in der<br />

Arbeit finden kann, außer ihr in einem „Freiraum", allerdings vergeblich<br />

und darum um so rastloser, sucht. An der angeführten Stelle<br />

heißt es bei Marx <strong>für</strong> die Rollentheorie völlig unverdaulich weiter:<br />

„Es kömmt daher zu dem Resultat, daß der Mensch (der Arbeiter)<br />

nur mehr in seinen tierischen Funktionen, Essen, Trinken und Zeugen,<br />

höchstens noch Wohnung, Schmuck etc., sich als freitätig fühlt<br />

und in seinen menschlichen Funktionen nur mehr als Tier. <strong>Das</strong> Tierische<br />

wird das Menschliche und das Menschliche das Tierische."<br />

Die Suche nach Verwirklichung in der Freizeit macht sich nun das<br />

Kapital durch zunehmende Subsumtion dieser Sphäre unter die Verwertungsinteressen<br />

zunutze. Dem Rollentheoretiker, dem alle sozialen<br />

Verhaltensweisen immer gleich sind, eins kann <strong>für</strong> das andere<br />

stehen, erscheint dieser Vorgang als eine Zunahme von Rollen im<br />

Rollenhaushalt. Nicht als Lohnarbeiter versucht etwa der Mensch<br />

wirklich zu werden in außerhalb der Arbeit liegenden Bereichen,<br />

sondern neben der Rolle des Lohnarbeiters hat er z. B. noch die des<br />

Familienvaters, des Radiobastlers, des Briefmarkensammlers, des<br />

Fernsehers und beliebig so weiter. — Da der Kapitalismus in seiner<br />

Epoche zugleich Träger des gesellschaftlichen Fortschritts ist, muß<br />

jenen Theoretikern, die die gedankliche Anstrengung nicht zu leisten<br />

vermögen, Negatives und Positives gleichzeitig festhalten zu müssen,<br />

die Zunahme von Rollen entweder als der Fluch der Vergesellschaftung<br />

schlechthin erscheinen (wie z. B. Dahrendorf) oder aber wie<br />

Dreitzel als die Gestalt des Fortschritts selber.<br />

Da die Entwirklichung der Menschen so von Dreitzel, wo sie von<br />

der Reflexion begleitet ist, als Seinskonstante <strong>für</strong> den glücklichen<br />

Menschen hochstilisiert wird, müssen die Taten der solcherart Einverstandenen<br />

dementsprechend folgenlos <strong>für</strong> eine wirkliche Veränderung<br />

der Gesellschaft sein. Antiautoritäre Modelle unter den<br />

Bedingungen der Herrschaft, Subkulturen und kulturrevolutionäre<br />

Bewegungen werden die Gesellschaft im Prinzip so lassen wie sie ist.<br />

Die Rollenhaftigkeit der Menschen bleibt als Untersuchungsfeld <strong>für</strong><br />

Soziologen. Der Widerstand ist kanalisiert, die Soziologie könnte ein<br />

übrigens tun und die Bedingungen <strong>für</strong> solche Kanalisation zur gezielten<br />

Anwendung ausfindig machen.<br />

* <strong>Das</strong> Zitat ist nicht, wie Dreitzel fälschlich angibt, aus der Deutschen<br />

Ideologie, sondern aus den ökonomisch-philosophischen Manuskripten<br />

(1844): Die entfremdete Arbeit, MEW, Ergänzungsband, 1. Teil, S. 514 f.

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