Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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78 Erich Wulff<br />
dem man sich Autonomie und Selbstverwirklichung nur ästhetisch<br />
vorspielen kann. Die Mitglieder der Mittelklassen haben genügend<br />
Zeit und einen genügend großen Freiraum zum Ausweichen ins<br />
Hobby, und ihre relative Befriedigung daran wächst proportional<br />
mit der Kapazität dieser Hobbies, ihre eigene Abhängigkeitssituation<br />
bis zur totalen Verdrängung hin vergessen zu machen. Der Unterklasse<br />
hingegen bleibt, solange sie die Normen und Werte der Mittelklassen<br />
akzeptiert, zur Entlastung von dieser Abhängigkeit nur<br />
die Wahl zwischen den Eruptionen statusverleihender Gewalt und<br />
dem Rückzug in die Passivität einer Konsumentenhaltung, wobei oft<br />
weniger die Gebrauchswerte, sondern die Statusmerkmale der Konsumartikel<br />
angestrebt werden. In diesen Zusammenhang gehört auch<br />
der Rückzug in den Rauschmittelkonsum. Diese Art des Konsums<br />
ermöglicht zudem die Illusion der Selbstverwirklichung durch Fetischisierung<br />
seiner Objekte: der Erwerb der Güter soll die kreative<br />
Mitbestimmung bei der Gestaltung der Bedingungen ihrer Produktion<br />
auf magische Weise ersetzen. Der von mehreren Autoren erwähnte<br />
Hang zu „untergründigen" Mußewerten findet hier vielleicht<br />
eine ihrer Erklärungen. Demgegenüber sind die soziopathischen Verhaltensweisen<br />
Durchbruchshandlungen (Häfner) 62, sie zielen auf<br />
einen Ausbruch aus den mannigfachen, den Betroffenen oft genug<br />
verborgenen Zwängen. Die aus der kapitalistischen Ausbeutung erwachsende<br />
und vielfach verschobene Aggressivität explodiert in<br />
ihnen zwar ziellos. Die Frage bleibt aber offen, ob man dies als<br />
„kränker" ansehen muß als das Verharren in der normopathischen<br />
Konformität. Im Grunde handelt es sich bei Normopathie und Soziopathie<br />
um die zwei Seiten der gleichen Medaille: um das Leiden an<br />
den — vielfach vermittelten und vielfach verschleierten — Widersprüchen<br />
der kapitalistischen Gesellschaft, ob dies Leiden nun in<br />
der irrationalen Befolgung oder aber in der irrationalen Sprengung<br />
der Normen seinen wesentlichen „symptomatologischen" Ausdruck<br />
findet. Ein Beweis da<strong>für</strong> ist, daß beide Formen, deren Hauptsymptome<br />
ja bekanntlich keine bewußten Leiden verursachen, nach den<br />
Ergebnissen der bisher vorliegenden Forschungen mit zunehmenden<br />
psychischen, vegetativen und hypochondrischen Begleitsymptomen<br />
einhergehen, also mit Leiden auch im engeren psychiatrischen Sinne.<br />
Den Ursachen dieser Leiden nachzugehen, statt Hilfe bei polizeiwissenschaftlichen<br />
Ermittlungen gegen Soziopathen zu leisten, sollte<br />
auch weiterhin die vordringliche Aufgabe der Psychiatrie bleiben.<br />
52 Häfner, Heinz: Psychopathen. Monographien aus dem Gesamtgebiet<br />
der Neurologie und Psychiatrie, Heft 94. Springer-Verlag, Berlin-Göttingen-Heidelberg<br />
1961.