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Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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Soziale Rolle und politische Emanzipation<br />

haushalt kompensatorische Möglichkeiten anbietet. Und es gibt<br />

schließlich Rollen, von denen man sich zurückziehen kann — entweder<br />

um den Preis einer Reduktion des Rollenhaushalts, der doch<br />

stets einen relativ festen Kern noch behalten muß, oder im Entschluß,<br />

sich einer subkulturellen Gegenrolle zu bedienen, deren Normen oft<br />

nicht weniger repressiv sind, nur eben andere Bedürfnisse unterdrücken.<br />

Die These von der Rollenhaftigkeit ist nicht einfach abstrakte<br />

Kategorisierung, sondern hat, wie alle anthropologischen<br />

Aussagen, konkrete Folgen <strong>für</strong> die soziologische Analyse. Sie besagt<br />

nichts weiter, als daß der Mensch seine Individualität nur auf dem<br />

Umweg über andere bilden kann und daß dieser Weg einer institutionellen<br />

Ordnung bedarf, die sich im Hinblick auf die Verschränkung<br />

von Selbstdarstellung und Fremdbestimmung am besten als Rollensystem<br />

beschreiben läßt. Diese Feststellung liegt noch vor der Vermutung,<br />

daß historisch gesehen Rollendistanz und Rollenhaushalt<br />

nicht immer schon in gleicher Weise wie heute zur Verfügung standen<br />

und damit auch Individualität sich nicht in gleicher Weise ausgebildet<br />

hatte — eine Vermutung, die nur von einer historischen<br />

Anthropologie zu belegen wäre. Sie liegt audi jenseits der Beobachtung,<br />

daß Menschen ihre Identität auch außerhalb von etablierten<br />

Rollensystemen verankern können, sei es in religiösen oder säkularen<br />

Glaubensakten, sei es in der Solidarität eines Gegenmilieus oder<br />

Untergrunds. In der melancholischen Klage über das Auseinanderfallen<br />

von „persönlicher" und „zufälliger" Identität drückt sich nur<br />

die alte Sehnsucht aus, daß der Mensch schließlich mit sich selbst<br />

identisch werden möge, sich nicht mehr ausgeben brauche als etwas,<br />

was er „eigentlich" gar nicht ist. Gerade in der Rollentheorie wird die<br />

soziologische Naivität dieser romantischen Utopie deutlich: jenseits<br />

der Gesellschaft und also auch irgendeiner Ordnung von Gesellschaft<br />

gibt es auch kein Subjekt mehr, und somit hat der Begriff der Rollenhaftigkeit,<br />

insofern er zwar nicht die Möglichkeit, wohl aber die Notwendigkeit<br />

eines Moments der Selbstdarstellung verbürgt, denn<br />

wirklich auch ein „Tröstliches" 23 . Beim Trost aber bleibt diese Anthropologie<br />

nicht stehen; sie hat vielmehr Folgen <strong>für</strong> die soziologische<br />

Analyse der Entfremdung zwischen dem Individuum und seinen<br />

Rollen. Deshalb lautet meine vierte These:<br />

Erst durch den Begriff der Rollendistanz gewinnt die Rollentheorie<br />

ein <strong>kritische</strong>s Potential. Die Tatsache, daß Rollendistanz in<br />

nennenswertem Umfang in unserer Gesellschaft den privilegierteren<br />

Rollen vorbehalten ist, indiziert nicht einfach die „Bürgerlichkeit"<br />

der Rollentheorie, sondern macht umgekehrt deutlich, worin die<br />

Entfremdung jener besteht, die ihre Identität nicht in der Erfüllung,<br />

sondern nur im Unterlaufen und Umgehen der ihnen aufgezwungenen<br />

Normen konstituieren und bewahren können. Rollendistanz bezeichnet<br />

nicht einfach den Spielraum einer folgenlosen subjektiven<br />

Reflexion, sondern die Bedingung der Möglichkeit von Veränderung<br />

und Widerstand selbst.<br />

23 So Helmut Plessner in: Rolle und menschliche Natur, in: Diesseits<br />

der Utopie, Düsseldorf/Köln 1966. Vgl. dazu P. Furths Polemik, op. cit.,<br />

S. 508 f.<br />

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