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Das Argument 71 - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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118 Hans Peter Dreitzel<br />

in einem engen, von Rollenvorschriften umstellten Raum entfalten<br />

können, ist falsch: einerseits leben und fungieren Rollennormen nur<br />

in der immer wieder neuen Realisierung durch den Rollenträger,<br />

andererseits braucht dieser die normative Strukturierung des Handelns,<br />

damit ein Minimum an Verhaltenssicherheit im Interaktionsprozeß<br />

gewährleistet ist, und den konkreten Sinnbezug seines Handelns<br />

auf einen gesellschaftlichen Relevanzbereich, um seine eigene<br />

Identität aufzubauen und abzusichern. Wiederum wäre es falsch, daraus<br />

zu folgern, daß also das Individuum allemal schon in den Griff<br />

der Gesellschaft genommen sei, weil seine Identität nur ein Derivat<br />

der herrschenden Normen ist. Die Sache verhält sich komplizierter:<br />

jedes Individuum verfügt über mehrere Rollen, und jede dieser Rollen<br />

verlangt ein größeres oder geringeres Maß an Identifikation. In<br />

der täglichen Auseinandersetzung mit den Rollen, die ein Mensch zu<br />

spielen hat, im ständigen Versuch, seinen Rollenhaushalt auszupendeln<br />

und zu einem sinnvollen und befriedigenden <strong>Das</strong>ein zu integrieren,<br />

sowie in dem Erfahrungsüberhang aus vergangenen Rollenidentitäten<br />

und der Antizipation zukünftiger, bildet sich jener Komplex<br />

aus typisierten Verhaltensweisen, Einstellungen, inneren Zwängen<br />

und spontanen Entwürfen seiner selbst aus, den wir insgesamt<br />

als Ich-Identität bezeichnen. Insofern ist jede Rollenidentität eines<br />

Menschen immer nur ein Aspekt seiner Ich-Identität und kann zudem<br />

ein durchaus negativer, freilich auch negierbarer sein. In der<br />

Tat bezeichnet der Rollenbegriff eine Einheit von Individuum und<br />

Gesellschaft unter den Bedingungen ihrer Trennung, ja. es ist gerade<br />

die besondere Stärke des Rollenbegriffs, daß er den Gegensatz zwischen<br />

Identifikation und Distanz thematisiert. Eine <strong>Theorie</strong>, die, wie<br />

auch die meisten älteren Rollentheorien, diese Dialektik nicht in sich<br />

aufnimmt, geht an der unaufhebbaren Widersprüchlichkeit der gesellschaftlichen<br />

Existenz des Menschen vorbei. Allerdings muß, mit<br />

den Worten Lenins, „der menschliche Verstand diese Gegensätze<br />

nicht als tote, erstarrte, sondern als lebendige, bedingte, bewegliche,<br />

sich ineinander verwandelnde auffassen" 16 . Darin liegt die Schwierigkeit<br />

auch im richtigen Umgang mit dem Rollenbegriff: wie in der<br />

Identifikation mit dem Aggressor sich die Ich-Identität selbst aufheben<br />

kann, wie umgekehrt in der negativen Identifikation die Rolle unterhöhlt<br />

und schließlich obsolet werden kann, wie Rollendistanz in Identifikation<br />

umschlagen und Rollenidentität zur Distanzierung führen<br />

kann — das sind reale Prozesse, die es konkret und empirisch zu<br />

untersuchen gilt, und zwar gerade, wenn es um Probleme des politischen<br />

Verhaltens und der Politisierung des Bewußtseins geht. <strong>Das</strong><br />

Paradigma der Rollentheorie ist gewiß von begrenztem Erkenntniswert;<br />

aber gerade <strong>für</strong> die genannten Prozesse im Vermittlungszusammenhang<br />

zwischen Individuum und Gesellschaft und zwischen Sein<br />

und Bewußtsein kann es Anleitung zur Untersuchung der gesellschaftlichen<br />

Praxis geben. Wobei nicht ihr geringster Vorzug wäre,<br />

16 Lenin, Konspekt zu Hegels Wissenschaft der Logik, zitiert nach<br />

Mao Tse-tung, Über Praxis und Widerspruch, Berlin 1968, S. 59.

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